Von heute auf morgen ignoriert
Beim «Ghosting» bricht eine Person den Kontakt abrupt ab. Das hat meist weniger mit einem persönlich zu tun als mit der Angst vor einem Konflikt.
aktualisiert am 25. Mai 2022 - 10:33 Uhr
Frage einer Leserin: «Er hat mich einfach blockiert. Jetzt stehe ich mit hundert Fragen da und weiss nicht, wie damit umgehen. Können Sie mir helfen?»
Besten Dank für Ihr sehr persönliches Schreiben. Sie zeigen sich recht zufrieden mit Ihrem Leben. Ihr Wort zählt etwas in der Firma, Sie haben viele enge Freundinnen, und auf Ihre Eigentumswohnung sind Sie sogar etwas stolz. Nur jemand an Ihrer Seite, das fehlt aus Ihrer Sicht. Seit ein paar Jahren sind Sie online auf Partnersuche . Aber so wie in der Werbung ist das nicht.
Letzte Woche passierte es nun erneut: Seit fünf Wochen hatten Sie sich mit jemandem ausgetauscht, zuletzt fast täglich. Sie freuten sich auf das erste Treffen, auch wenn Sie erfahren genug waren und wussten, dass dem digitalen Eindruck immer ein paar Dimensionen fehlen. Gemeinsame Hobbys, Anschauungen und ein ähnlicher Humor waren relativ gute Voraussetzungen.
Dann die Verabredung. Er liess Sie warten, 10 Minuten, 20 Minuten. Auf Ihre Anfrage, ob er im Stau stecke, kam – nichts. Funkstille. Nach 30 Minuten hatte er Sie blockiert. Sie konnten ihn also nicht mal mehr anschreiben. Als hätte er Ihnen ein Stück Klebeband über den Mund geklebt und Sie nun mit vielen unbeantworteten Fragen sitzen gelassen, die alle mit einem «Warum» begannen. Sie zogen zu Hause einfach die Jalousien herunter und wollten sich für ein Wochenende vor der Welt verstecken.
Was Ihnen wiederholt passiert ist, gehört zu dieser auch nicht mehr so ganz glänzenden neuen digitalen Welt und heisst Ghosting. Ihre 16-jährige Nichte weiss wohl leider mehr darüber als Sie. Weh tut es aber auch ihr. Ein Ghost, Geist, wirkt echt wie etwas Reelles und löst sich dann plötzlich in Luft auf. Eben wie dieser Mann. Es passiert häufig unmittelbar vor der ersten Begegnung, direkt danach oder auch drei Wochen später. Das macht es so schwierig. Ghosting kann irgendwann auftreten, ist unberechenbar und oft auch nicht voraussehbar.
Voraussehbar ist aber unsere Reaktion. Es bleiben etliche Fragen. Was habe ich falsch gemacht? War es dieser letzte Satz? War ich zu forsch oder zu scheu? Es ist wie damals in der ersten Klasse, als alle ein Smiley erhielten und nur Sie nicht. Bis heute wissen Sie nicht, warum. Und bis heute erinnern Sie sich daran. Ghosting tut weh und hinterlässt Narben.
Was hilft? Einordnen macht etwas begreifbar. Der digitale Raum ist ein neuer Sozialraum, den wir erst kennenlernen. Jeder Raum ist anders und hat andere ungeschriebene Regeln. Am Arbeitsplatz führen wir andere Gespräche als in der Umkleidekabine des Fitnessclubs, in der Kirchgemeinde, in der Warteschlange vor dem Kino oder in einer lauten Bar. Was an einem Ort völlig okay ist, würde am anderen Ort völlig missverstanden oder wäre unpassend.
Der digitale Raum entspricht am ehesten einem Café, der lauten Bar oder einer Beiz. Im Café kann Intimes besprochen werden, aber jede Person muss sich bewusst sein, dass jemand am Nachbartisch mithört und – in der Schweiz nicht ganz selten – jemanden kennt, der ein Interesse am Erzählten oder einen Bezug dazu hat.
Plötzlich ist unsere Intimität relativ öffentlich. In der Beiz führt die Stimmung und wohl das Bier dazu, dass Meinungen sehr pointiert werden, viel pointierter, als sie es im Büro wären. Und in der Bar? Da ist Ghosting lange bekannt. Man schwatzt eine Viertelstunde zusammen und sieht plötzlich jemand anderen. Wie löst man den Konflikt? Man geht schnell zur Toilette und kehrt nicht mehr zurück. Dating-Apps im digitalen Raum suggerieren intime Zweisamkeit, sind aber vielleicht doch näher am Kennenlernen in einer lauten Bar – mit den Regeln der lauten Bar.
«Sein Handeln hat sehr wenig mit Ihnen zu tun und ganz viel mit ihm.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Das ist ein Teil der Geschichte. Der andere hat mit Vermeidung zu tun. Eine negative Botschaft zu überbringen , negatives Feedback zu geben oder auch zu einem eigenen Standpunkt zu stehen und einen Konflikt zu riskieren, all das ist etwas unangenehm, macht vielleicht Angst und braucht etwas Mut.
All das vermeiden viele von uns gern. Und das ist meist der wahre Hintergrund von Ghosting. Es hat also sehr wenig mit Ihnen zu tun und ganz viel mit ihm. Hier schützt vielleicht ein allgemeiner Zusatz in Ihren Nachrichten, so, wie viele berufliche Mails einen Zusatz zum Datenschutz haben. Im Sinne von: «Manchmal stimmt die Chemie nicht, und manchmal ist es einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Dann bin ich froh um eine höfliche und doch direkte Mitteilung. Ghosting ist unfair und hinterlässt unnötige Wunden – bei allen.»
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