Rund 58 Prozent der ständigen Schweizer Wohnbevölkerung gehören zum Mittelstand. Zählt man die 19 Prozent dazu, die laut Statistik zur Oberschicht gehören, geht es dem Gros der hier ansässigen Menschen gut bis sehr gut. Das zeigt der letzte Bericht des Bundesamtes für Statistik (BFS) zum Thema.

Das tönt beruhigend. Schaut man sich die Zahlen allerdings genauer an, kann man zum Schluss kommen, dass der Begriff Mittelstand eher grosszügig ausgelegt wird. Für Einzelpersonen bewegt sich die Einkommensspannweite zwischen 4126 Franken und 8842 Franken im Monat. Der Unterschied zwischen dem unteren und dem oberen Rand ist also mit gut 4700 Franken höher als der unterste Wert.

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Was ist der Einkommensmedian?

Pascal Pfister, Geschäftsführer des Dachverbands Schuldenberatung Schweiz, sagt dem Beobachter dazu: «Unverhoffte Rechnungen, zum Beispiel vom Zahnarzt, führen bei Menschen mit geringen und unregelmässigen Einkommen schnell zu Schulden. Sie leben somit in unsicheren Verhältnissen. Ein Bruttoeinkommen von 4126 Franken gehört sicherlich in diese Kategorie.»

Viele Verschuldete landen früher oder später bei einer Schuldenberatung. Allerdings kann nicht allen geholfen werden. «Tatsächlich hat jemand, der mit einem Bruttoeinkommen von 4126 Franken im Monat für eine Schuldensanierung zu uns kommt, keine guten Karten. Er oder sie ist unter Umständen schlicht nicht sanierbar, weil das Einkommen mit den zwingenden Ausgaben schon so sehr ausgereizt ist, dass kein Geld für eine Schuldenabzahlung eingespart werden kann», sagt Nora Goll, Anwältin bei der Berner Schuldenberatung.

Im Schuldenfall wenig Spielraum

Ähnlich sieht das die Basler Schuldenberatung Plusminus. «Gemäss unseren Beratungserfahrungen in Basel-Stadt bleibt bei einem Bruttoeinkommen von rund 4100 Franken im Schuldenfall nicht sehr viel Spielraum für Abzahlungsvereinbarungen», sagt Cristian Cardoso von Plusminus. Wenn eine Person nicht mehr als 25 bis 33 Prozent des Einkommens für Wohnen ausgeben solle, mit grosser Wahrscheinlichkeit keine oder kaum Prämienverbilligung erhalte und allenfalls noch Notrücklagen für unerwartete Auslagen bilden wolle, werde es nicht einfach.

Es dürfe sogar die Frage gestellt werden, ob die Schwellen von Mittelschicht und Armutsgefährdung nicht etwas gar nahe beieinanderlägen: «Bei 70 Prozent des Medianeinkommens wird noch von Mittelstand gesprochen, bei 60 Prozent ist eine Person bereits in Armutsgefährdung – so lautet zumindest die Definition der Armutsgefährdungsquote.» Diese Quote liegt in der Schweiz bei über 16 Prozent.

«Man würde besser von einer unteren Mitte und einer oberen Mitte sprechen.»

Aline Masé, Leiterin der Caritas-Fachstelle Sozialpolitik

Auch bei Caritas Schweiz sieht man die Spannweite als kritisch an: «Ob ein Haushalt 70 Prozent des Medianeinkommens hat oder 150 Prozent, macht einen grossen Unterschied», sagt Aline Masé, Leiterin der Fachstelle Sozialpolitik. Diese Haushalte in einer einzigen Gruppe zusammenzufassen, sei nicht sinnvoll, wenn man darüber reden wolle, ob diese Personen mit ihrem Einkommen die Fixkosten gut decken könnten und am Ende des Monats etwas übrig bleibe. «Dann würde man besser von einer unteren Mitte und einer oberen Mitte sprechen.»

Dass 4000 Franken brutto im Monat oft nicht reichen, bemerkt auch Beat Handschin, Geschäftsführer der Stiftung SOS Beobachter, bei seiner täglichen Arbeit. «Auch bei uns melden sich immer wieder Menschen mit einem so tiefen Einkommen, die wegen einer unerwarteten Rechnung in eine Notlage geraten sind.»

«Die Grenzwerte sind die Ergebnisse einer rein mathematischen Rechnung», heisst es beim BFS auf Anfrage des Beobachters. Die Werte für den oberen und den unteren Mittelstand weise man im Übrigen regelmässig in den jährlich aktualisierten Tabellen und, wo sinnvoll, in Vertiefungsanalysen aus, erklärt das Bundesamt.

Illusion vom Mittelstand

Steckt hinter der grosszügigen Auslegung des Begriffs Mittelstand auch eine gesellschaftspolitische Absicht? «Ein grosser Teil aller Lohnabhängigen positioniert sich in der eigenen Wahrnehmung nicht bei ‹denen da oben› oder bei ‹denen da unten›, sondern im ‹Mittelstand›. Diese Illusion will man den Betroffenen nicht rauben», glaubt Pascal Pfister vom Dachverband Schuldenberatung Schweiz.

«Aber auch die Sicherheit des sogenannten oberen Mittelstandes ist relativ», sagt Pfister. Schulden hätten auch mit gesellschaftlichem Abstieg zu tun. Bei einer Krankheit oder anderen Schicksalsschlägen sei das Ersparte schnell aufgebraucht.