25’000 Franken für Opfer von Medikamentenversuchen
Meilenstein in der Aufarbeitung der Medikamentenversuche von Münsterlingen: Mit dem Jahreswechsel können Psychiatrie-Opfer vom Kanton Thurgau eine Entschädigung einfordern.
Veröffentlicht am 19. Dezember 2024 - 13:49 Uhr
Der Kanton Thurgau hat sich jahrelang geweigert, die Opfer von Medikamentenversuchen in der psychiatrischen Klinik Münsterlingen zu entschädigen. Erst im April 2023 stimmte das Thurgauer Kantonsparlament der überparteilichen Forderung zu, die gesetzliche Grundlage dafür zu schaffen.
Mit dem Jahreswechsel tritt diese nun in Kraft, wie das Thurgauer Staatsarchiv auf seiner Website schreibt. Ab 1. Januar 2025 können Betroffene beim Staatsarchiv ein Gesuch für einen Solidaritätsbeitrag in der Höhe von 25’000 Franken einreichen.
«Als Beleg gilt die Erwähnung einer Prüfsubstanz in der Krankenakte oder im Nachlass Roland Kuhn.»
Mitteilung des Staatsarchivs
Diese Entschädigung erhalten Personen, die den jahrzehntelangen Medikamentenversuchen des Psychiaters Roland Kuhn ausgesetzt waren.
Ein Solidaritätsbeitrag wird gewährt, wenn dem Patienten oder der Patientin erwiesenermassen eine pharmazeutische Prüfsubstanz verabreicht wurde. Das Staatsarchiv schreibt: «Als Beleg gilt die Erwähnung einer Prüfsubstanz in der Krankenakte oder im Nachlass Roland Kuhn.»
Betroffene müssen mit der Gesuchseingabe nicht selbst belegen, dass sie Teil der Medikamententests waren. Weil der Psychiater Kuhn umfangreiche Aktenbestände aus seiner Zeit in der psychiatrischen Klinik Münsterlingen hinterliess, wird das Staatsarchiv den Anspruch von Betroffenen selbst prüfen.
«Endlich ist es so weit.»
Walter Emmisberger, Betroffener
Das neue Gesetz ist für Walter Emmisberger eine Genugtuung: «Endlich ist es so weit», sagt er gegenüber dem Beobachter. Seit Jahren engagiert sich der 68-Jährige für die Aufarbeitung und die Entschädigung dieser Menschenversuche.
Immer wieder kontaktierte er Behörden und Politiker und forderte eine Aufarbeitung inklusive einer Entschädigung.
Vor zehn Jahren erfuhr er nur durch Zufall, dass auch er Teil von Kuhns fragwürdiger Forschung war. Emmisberger, der 1956 als Sohn einer unverheirateten Mutter im Gefängnis zur Welt kam und später fremdplatziert wurde, wollte damals seine Kindheit aufarbeiten.
Dabei fand er in der psychiatrischen Klinik Münsterlingen seine Patientenakte. Hier erfuhr er, wie seine Pflegeeltern ihn aufgrund seiner schulischen Probleme in die Psychiatrie brachten und Kuhn an ihm über mehrere Jahre hinweg verschiedene neue Substanzen ausprobierte.
Einige davon kamen nie auf den Markt. 2014 berichtete der Beobachter über diese erschütternde Geschichte.
Kuhn als «Vater der Antidepressiva»
Emmisberger leidet bis heute unter den Folgen der Versuche. Er kann sich kaum in einer Menschengruppe aufhalten und leidet seit Jahren unter Panikattacken. Für sein Engagement erhielt er 2013 mit anderen Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen den Prix Courage des Beobachters.
Obschon sich der Kanton Thurgau lange gegen eine Entschädigung wehrte, liess er die Geschichte wissenschaftlich aufarbeiten. Im Schlussbericht von 2019 legte die Forschergruppe ein erschreckendes Ausmass dieser Medikamentenversuche offen.
Während rund 40 Jahren testete Psychiater Roland Kuhn mindestens 67 neue Substanzen an mehreren Tausend Personen, die meisten davon wurden von der damaligen Firma Geigy geliefert (heute Novartis). Roland Kuhn gilt in der Medizin bis heute als «Vater der Antidepressiva».
- Staatsarchiv Thurgau: Medikamententests
- Staatsarchiv Thurgau: Gesuchsformular für Entschädigungsanträge
- Forschungsbericht: Testfall Münsterlingen – Forschungsbericht klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940–1980