Sie schreiben der Regierungsrätin. Sie mailen dem Bundesrat. Sie werden beim Gemeindepräsidenten vorstellig: Mehr als ein Dutzend Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen wehren sich für ihre Rechte. Diesen November haben sie deshalb rund 150 Briefe an Politikerinnen und Politiker verschickt.

Der Grund für ihr Engagement ist, dass die einen vom Staat doppelt so viel Geld erhalten wie die anderen. «Das darf nicht sein», begründet Elisabeth Am Rhein, eine der Betroffenen. «Unter uns Opfern ist eine Zweiklassengesellschaft entstanden. Das können wir nicht akzeptieren», sagt die 61-Jährige.

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Musterbrief des Beobachters

Schaffhausen will ab 2025 zahlen

Das Problem: Die Schweiz hat gesetzlich anerkannt, dass sie vor 1981 Unrecht begangen hat. Weil sie Menschen ohne Widerspruchsrecht in Heimen wegsperrte. Weil sie Kinder den Eltern wegnahm, nur weil diese arm oder geschieden waren. Die Betroffenen sind ehemalige Verdingkinder, Heimkinder, Zwangsadoptierte und Zwangssterilisierte. Viele wurden zur Arbeit gezwungen, ohne je Geld dafür zu sehen.

Mehr als 10’600 von ihnen hat das Bundesamt für Justiz offiziell als Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen anerkannt. Und ihnen einen Solidaritätsbeitrag von 25’000 Franken ausbezahlt.

Gemeinden und Kantone in der Pflicht

Doch neuerdings zahlt nicht nur die Eidgenossenschaft solche Beiträge aus, seit 2023 tut das auch die Stadt Zürich – und der Kanton Schaffhausen will es ab 2025 tun.

Wer also in der Stadt Zürich oder im Kanton Schaffhausen Opfer der Behörden wurde, erhält doppelt so viel Geld wie alle anderen. Denn Zürich und Schaffhausen zahlen zusätzlich nochmals 25’000 Franken aus. Ihre Begründung: Für die menschenrechtswidrigen Fremdplatzierungen war nicht der Bund verantwortlich, es waren die Gemeinden und die Kantone.

«Schwerste Formen des Missbrauchs»

Das zeigt der Fall von Elisabeth Am Rhein exemplarisch. Sie wurde 1974 mit elf Jahren ihren Eltern weggenommen und bevormundet. Der Grund: Die Mutter hatte Schulden. Die Appenzeller Justiz steckte sie in Untersuchungshaft, als die Gläubiger Druck machten. So steht es in den Akten.

Und dem Vater traute die Vormundschaftskommission Herisau die alleinige Kindesobhut nicht zu. Die kleine Elisabeth wurde ins St. Iddaheim in Lütisburg SG gesteckt. In diesem berüchtigten katholischen Kinderheim gab es bis 1988 «schwerste Formen des Missbrauchs», wie Forscherinnen der Universität Zürich feststellten.

Elisabeths Eltern wurden die Herisauer Vormundin kaum mehr los. «Erst als ich mit 18 Jahren mit meiner geschiedenen Mutter von Ausserrhoden nach Deutschland zog, war ich frei», sagt Elisabeth Am Rhein.

17 Betroffene schreiben Briefe

Ihre Geschichte hat sie vor drei Monaten dem Gemeindepräsidenten von Herisau erzählt. Und ihm ihre Vormundschaftsakten geschickt. «Ich wollte ihm zeigen, dass auch Ausserrhoden Schuld auf sich geladen hat. Wie alle Kantone und Gemeinden.» Eine Antwort hat sie bisher nicht erhalten.

Der Kanton Schaffhausen hingegen hat für 2025 das erste kantonale Wiedergutmachungsgesetz angekündigt: Es soll das Unrecht anerkennen, das «den Opfern durch kantonale oder kommunale Behörden im Kanton Schaffhausen zugefügt» worden sei. Die Kosten für den Schaffhauser Solidaritätsbeitrag teilen sich Kanton und Gemeinden.

Für Elisabeth Am Rhein ist klar: «Alle, denen das passiert ist, sollen die gleichen Rechte haben.» Bereits 17 Betroffene aus neun Kantonen haben Briefe an die Fraktionspräsidien der kantonalen Parlamente geschickt. Mit der Bitte, keine Ungleichheit zwischen den Opfern zuzulassen. «Wir würden uns freuen, wenn andere Kantone sich Schaffhausen zum Vorbild nähmen», sagt Am Rhein.

Hinweis: Dieser Artikel wurde erstmals am 17. Nov. 2024 veröffentlicht.

Sind Sie auch betroffen?

Wurden auch Sie Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen? Dann schreiben Sie an die zuständigen Behörden. Hier können Sie einen Musterbrief des Beobachters herunterladen.

Quellen