Die kleine Ursula Kollegger – so der Mädchenname von Ursula Waser – war ein halbes Jahr alt, als die Polizei sie abholte und in ein Kinderheim steckte. Für Waser der Beginn einer schier endlosen, quälenden Reise durch insgesamt 20 Heime.

So wie Ursula Waser erging es zwischen 1926 und 1973 rund 600 jenischen Kindern. Sie wurden ihren Eltern weggenommen und zwangsweise in Heimen, Erziehungsanstalten und bei Pflegefamilien «versorgt». Weil ihre Eltern arm waren oder nicht nach der damaligen gesellschaftlichen Norm lebten. Erwachsene, die als Minderjährige fremdplatziert worden waren, wurden unter Vormundschaft gestellt, in Anstalten untergebracht, mit einem Eheverbot belegt und in Einzelfällen auch zwangssterilisiert.

Partnerinhalte
 
 
 
 

Die Kindeswegnahmen erfolgten primär im Rahmen des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse», eines Programms der Stiftung Pro Juventute. Neben Pro Juventute trennten auch kirchliche Hilfswerke und Behörden jenische Kinder von ihren Eltern, so dass von gegen 2000 Fremdplatzierungen ausgegangen werden muss.

Ein Beobachter-Interview als Auslöser

Das war nach heutigem Rechtsverständnis ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit – das anerkennt jetzt der Bundesrat. Er stützt sich dabei auf ein Rechtsgutachten des Zürcher Völkerrechtlers Oliver Diggelmann. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider und ihr Departement werden im Dialog mit den Betroffenen bis Ende 2025 klären, ob es eine weitere Aufarbeitung braucht.

Auslöser für die Abklärungen des Bundes war ein Beobachter-Interview mit Strafrechtsprofessorin Nadja Capus. «Das erfüllt den Tatbestand des Völkermords», sagte sie vor zwei Jahren. Im Eidgenössischen Departement des Innern wirbelte das einigen Staub auf.

1972 aufgedeckt – ebenfalls durch den Beobachter

Schon bei der Aufdeckung des damaligen verbrecherischen Handelns von Pro Juventute, Kirchen und Behörden spielte der Beobachter eine zentrale Rolle. Im Jahr 1972 berichtete der Beobachter-Journalist Hans Caprez im Artikel «Die Klagen fahrender Mütter» von den brutalen Praktiken. Der Artikel mobilisierte die Öffentlichkeit, führte zur Auflösung des Hilfswerks und stiess einen Prozess zur Aufarbeitung und Entschädigung für die betroffenen Familien an, der seither andauert.