Swissmedic warnt vor Epilepsie-Medikament
Wenn Väter vor der Zeugung das Epilepsiemittel Depakine einnehmen, droht ungeborenen Kindern womöglich eine Entwicklungsstörung.
Veröffentlicht am 12. Oktober 2023 - 09:19 Uhr
Swissmedic und mehrere andere Heilmittelbehörden warnen: Kinder von Männern, die in den drei Monaten vor der Zeugung mit dem Wirkstoff Valproat behandelt wurden, haben womöglich ein erhöhtes Risiko für neurologische Entwicklungsstörungen.
Die «vorsorgliche» Warnung sprechen die Behörden aus, obwohl erst zwei von drei rückblickenden Beobachtungsstudien aus drei nordeuropäischen Ländern ausgewertet sind.
Swissmedic empfiehlt Epilepsiepatienten, die Depakine, Convulex oder ein anderes Medikament mit dem Valproat-Wirkstoff einnehmen, mit dem verordnenden Arzt mögliche Alternativen zu besprechen – als «Vorsichtsmassnahme». Die Heilmittelbehörde spricht lediglich von einer «vorsorglichen Anpassung der Arzneimittelinformationen». Dennoch müssen Medikamentenhersteller wie Sanofi neu auf der Packungsbeilage auf das mögliche Risiko hinweisen.
Therapie nicht einfach abbrechen
Swissmedic warnt gleichzeitig, dass Männer, die mit Valproat behandelt werden, die Einnahme nicht ohne ärztliche Rücksprache abbrechen sollten. Denn die Krankheitssymptome könnten sich verschlimmern: «Ein eigenmächtiger, plötzlicher Abbruch einer Epilepsiebehandlung etwa kann Anfälle auslösen.»
Trotz der Swissmedic-Warnung rät die Schweizerische Epilepsie-Liga «von vorschnellen Therapieumstellungen ab». Die Fachorganisation schreibt, diese Information beruhe «lediglich auf ersten Daten einer retrospektiven Auswertung, die bislang noch nicht abgeschlossen und publiziert» sei. «Die Ursache, Häufigkeit oder Schwere dieser Entwicklungsstörungen bleibt daher zum aktuellen Zeitpunkt offen.»
Schon seit Jahren ist bekannt, dass Kinder mit Fehlbildungen und Entwicklungsstörungen zur Welt kommen können, wenn ihre Mütter während der Schwangerschaft Valproat-Medikamente wie Depakine eingenommen haben. In der Schweiz sind mehrere Dutzend Fälle dokumentiert. Seit mehreren Jahren ist ein juristisches Seilziehen darüber im Gang, ob der Medikamentenhersteller Sanofi ausreichend vor den möglichen Nebenwirkungen gewarnt hat.
Gesichtsanomalien, Missbildungen, Entwicklungsstörungen
Valproat-Medikamente sind schon mehr als 50 Jahre auf dem Markt. Schon früh war bekannt, dass sie schwerwiegende Schäden am ungeborenen Kind auslösen können. Ärzte verschrieben diese Epilepsiemittel trotzdem schwangeren Frauen sowie Frauen mit Kinderwunsch. Inzwischen geht man davon aus, dass etwa 10 Prozent der Kinder, die in der Schwangerschaft dem Wirkstoff ausgesetzt waren, mit Missbildungen geboren wurden (Gesichtsanomalien, «offener Rücken», Missbildungen an der Wirbelsäule, an Lippen, Kiefer- oder Gaumenspalte, Herzfehler und anderes). Bei etwa 30 bis 40 Prozent der betroffenen Kinder kommt es zu schweren Entwicklungsstörungen (kognitive und psychomotorische Beeinträchtigungen, Autismus-Spektrums-Störungen).
Motion für Entschädigung abgelehnt
In Frankreich kam es aufgrund der vielen Fälle 2016 zu einer strafrechtlichen Untersuchung. In der Folge wurde für die Betroffenen ein Entschädigungsfonds eingerichtet. In der Schweiz lehnte der Bundesrat eine Motion der Waadtländer SP-Nationalrätin Brigitte Crottaz für einen solchen Entschädigungsfonds ab. Ihre Forderung wurde schliesslich stillschweigend abgeschrieben, weil sie im Nationalrat nicht innerhalb der vorgeschriebenen Zeit traktandiert wurde.
Selbsthilfegruppe/Anlaufstelle für betroffene Familien: www.assac.ch
Beobachter-Portal für vertrauliche Meldung über Missstände: www.sichermelden.ch