Manchmal schlafe ich miserabel. Manchmal attackiert mich eine Migräne, und wenn ich hungrig bin, bin ich unausstehlich. Was, wenn es eine einfache Lösung für all diese Zumutungen gäbe?

Tatsächlich gibt es die – wenn man einem aktuellen Trend glaubt. Glukosebewusste Ernährung soll Schluss mit Müdigkeit, Heisshunger und schlechtem Schlaf machen und chronische Krankheiten verhindern. Von Übergewicht und Typ-2-Diabetes über Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Migräne bis zu Krebs und Alzheimer.

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Die Glucose Goddess hat fünf Millionen Follower auf Instagram

Die französische Biochemikerin Jessie Inchauspé zeigt auf Instagram, wo sie als Glucose Goddess aktiv ist, wie sich Nahrungsmittel auf den Blutzuckerspiegel auswirken. Damit trifft sie einen Nerv: Mittlerweile folgen ihr über fünf Millionen Menschen.

«Wir brauchen eine neue Art, mit Zucker in all seinen Formen umzugehen», schreibt die Glukose-Göttin in ihrem Buch «Der Glukose-Trick». Gelingen soll das dank einem Messgerät, das den Blutzucker in Echtzeit aufzeichnet, und verschiedenen «Hacks», die den Blutzucker ausgleichen sollen.

Das will ich ausprobieren: Für 79 Franken bestelle ich mir einen fünflibergrossen Sensor und pikse mich damit – schmerzfrei – in den Arm. Kurz danach erscheint in der zugehörigen App meine Blutzuckerkurve.

Gipfeli und Konfi schlagen an

Ich esse Haferflocken, Apfel und Joghurt zum Frühstück, die Kurve steigt kaum an. Ich esse Gipfeli, Konfitüre mit einem Cappuccino zum Frühstück, die Kurve steigt steiler an. So geht es rauf und runter. In der Regel führen viel Zucker, helle Pasta oder Weissbrot zu einem grösseren Anstieg; Vollkornprodukte und Proteine zu einem kleineren.

Zweimal weckt mich nachts ein Alarm, da mein Blutzucker tief ist. Ich schrecke aus dem Schlaf und knabbere einen Cracker. Am Tag darauf fühle ich mich müde. Aber ist das nun wegen des Zuckertiefs oder des nächtlichen Stresses?

Weil ich die vielen Diagramme in der App nicht interpretieren kann, zeige ich sie Nadja Krawtchenko. Die Internistin und Hausärztin ist leitende Ärztin der Holistiq Health Group, einer telemedizinischen Beratungsplattform, die ganzheitliche, personalisierte und natürliche Gesundheitslösungen bei chronischen Erkrankungen anbietet.

«Glu­kose-Tracking gibt den Patienten ihre Selbstwirksamkeit zurück.»

Nadja Krawtchenko, Ärztin

Krawtchenko findet Glukose-Tracking auch bei Nichtdiabetikern sinnvoll. Sie empfiehlt es, wenn sie eine Störung des Stoffwechsels vermutet, bei Übergewicht, Prädiabetes oder auch bei Frauen in der Meno- oder Perimenopause. Dabei geht es ihr vor allem um den Lerneffekt: «Wenn die Patienten live sehen, was Kuchen oder ein Glas Bier mit ihrem Zuckerspiegel machen, hat das einen enormen Effekt auf sie», sagt sie.

Ein kurzes Selbstexperiment sei oft um ein Vielfaches wirkungsvoller, als wenn sie zu erklären versuche, wie sich Zucker im Körper auswirkt. «Glukose-Tracking gibt den Patienten ihre Selbstwirksamkeit zurück.»

Doch warum ist ein regulierter Blutzuckerspiegel überhaupt so wichtig? Wenn wir übermässig viel Zucker und leicht verdauliche Stärke konsumieren, führt das zu häufigen Glukosespitzen. Der Körper reagiert mit vermehrter Insulinproduktion, um den Blutzucker zu regulieren. Die höheren Insulinwerte können negative Auswirkungen auf den Stoffwechsel haben, etwa Gewichtszunahme, Leberverfettung und hormonelle Störungen.

«Wenn man hier nicht gegensteuert, können Prädiabetes und letztlich Diabetes entstehen, wo der Zuckerspiegel nicht mehr ausreichend reguliert wird», so Krawtchenko. Überschüssige Glukose überfüllt die Zellen und wird in ihnen als Fett gespeichert. Die Energiegewinnung der Zelle wird gestört. Es entstehen vermehrt freie Radikale, oxidativer Stress wird ausgelöst, Entzündungen und Autoimmunreaktionen werden gefördert. Im Blut zirkulierende, überschüssige Glukose begünstigt Gefässverstopfungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Volkskrankheit Typ-2-Diabetes

Bei Alzheimer, Krebs, Migräne oder auch Schlafstörungen sei der Zusammenhang mit dem Zuckerstoffwechsel weniger klar, widerspricht sie Inchauspé: «Da spielen auch viele andere Faktoren mit.» Dennoch ist für Krawtchenko die übermässige Glukose in unserem Essen die Wurzel so manchen Übels. In der Schweiz seien 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung – in den USA bereits ein Drittel – von einem Prädiabetes-Zustand betroffen, der ohne Änderung des Lebensstils und der Ernährung häufig zu Typ-2-Diabetes führt. Letzterer gilt in der Schweiz als Volkskrankheit, rund fünf bis sechs Prozent der Erwachsenen sind betroffen, Tendenz steigend.

Ich denke an die Schokolade, die ich mir so gern gönne, und frage, wie es nun um meinen Blutzuckerspiegel stehe. Krawtchenko gibt Entwarnung: «Alles im grünen Bereich.» Nicht mal die nächtlichen Alarme beunruhigen sie. Mein Zuckerstoffwechsel scheine normal zu funktionieren.

«Wir zählen unsere Schritte, tracken unseren Schlaf – es war nur eine Frage der Zeit, bis man auch den Blutzuckerspiegel misst.»

Stefan Fischli, Arzt

«Scheint?», hake ich verunsichert nach. Mit einer Glukosemessung allein könne man keine Diagnose stellen, stellt sie klar. Die Blutzuckerkurve könne auch bei abnormalen Insulinwerten normal aussehen – wenn das Insulin es gerade noch schafft, den Blutzucker auszubalancieren. Um das zu diagnostizieren, bräuchte es Abklärungen. Die sind bei mir aber nicht notwendig. Ich bin nicht übergewichtig, bewege mich ausreichend und ernähre mich einigermassen gesund, habe also keine Risikofaktoren.

Stefan Fischli, Chefarzt Endokrinologie und Diabetologie des Luzerner Kantonsspitals, kann sich zwar vorstellen, dass Patienten mit einer leichteren Glukosestoffwechselstörung in Ausnahmefällen vom einmaligen Einsatz eines Sensors profitieren. «Bei Gesunden bringt das jedoch nichts», sagt er.

Der Trend sei Ausdruck unserer Zeit. «Wir zählen unsere Schritte, tracken unseren Schlaf – es war nur eine Frage der Zeit, bis man auch den Blutzuckerspiegel misst.» Er setzt die Sensoren bei Diabetikern ein. «Sie können damit gefährlich hohe und tiefe Blutwerte erkennen, ohne sich zigmal am Tag in den Finger stechen zu müssen.»

Erkenntnisse aus dem Reagenzglas

Das Verhindern von Blutzuckerspitzen habe bei gesunden Menschen keinen belegten Nutzen, sagt er. Inchauspé beziehe sich oft auf Studien, die mittels Reagenzglas oder Versuchstieren gemacht worden seien. Die daraus gezogenen Schlüsse könne man – wie auch Ergebnisse aus Studien mit Diabetesbetroffenen – nicht eins zu eins auf den gesunden Menschen übertragen. Auch ziehe sie allgemeine Schlüsse aus ihren eigenen Beobachtungen. «Das ist alles in allem unwissenschaftlich.» Die Glucose Goddess habe mit Büchern und neuerdings auch mit einem Nahrungsergänzungsmittel in erster Linie «ein gutes Geschäftsmodell entwickelt».

Mit einem Teil der in den Büchern vermittelten Ernährungsempfehlungen ist er allerdings einverstanden – diese seien jedoch nicht neu, sondern längst etabliert. Es sei gut bekannt, dass Kohlenhydrate in Kombination mit Protein oder Fett und ganz allgemein komplexe Kohlenhydrate und Ballaststoffe den Blutzuckerspiegel eher flach halten und so ein länger anhaltendes Sättigungsgefühl vermitteln können.

«Ein gutes Mikrobiom hilft eben auch, den Blut­zuckerspiegel zu regulieren.»

Nadja Krawtchenko, Ärztin

Auch Krawtchenko geht mit den Tipps von Inchauspé grösstenteils einig. Sie betont vor allem die Wichtigkeit von ausreichenden und vielfältigen Ballaststoffen. «Damit – und mit dem Verzicht auf stark verarbeitete Lebensmittel – tun wir unserem Mikrobiom etwas Gutes», sagt sie. «Und ein gutes Mikrobiom hilft eben auch, den Blutzuckerspiegel zu regulieren.»

Essig trinken mit der Glucose Goddess

Ich habe mir auf Inchauspés Empfehlung hin das Konfibrot zum Frühstück abgewöhnt und kann bestätigen: Mit einem Käsebrot halte ich ohne Hungerattacke bis zum Mittagessen durch. Mehr Mühe hatte ich hingegen mit dem Apfelessigdrink – zwei Esslöffel naturtrüber Bioapfelessig in zwei Dezilitern Wasser –, den sie als «Hack» etwa vor einem Teller Spaghetti empfiehlt.

Nachdem mir Krawtchenko das Getränk auch wegen der positiven Wirkung auf den Darm ans Herz gelegt hat, probiere ich es noch einmal und merke: gar nicht mal so übel, mit der richtigen Sorte Apfelessig.

Hungerast ade

Nach genau 14 Tagen schaltet sich mein Sensor ab. Mein Fazit? Schlaf und Kopfschmerzen sind unverändert. Aber ich habe tatsächlich seltener einen Hungerast, bin länger satt. Einiges werde ich also beibehalten. Und doch bin ich froh, nun wieder essen zu können, ohne ständig unter Kontrolle zu stehen.

Die Kritik, Glukose-Tracking fördere die Essstörung Orthorexie, kann ich deshalb ansatzweise nachvollziehen. Wer nicht mehr im Blick hat, dass der Blutzucker nicht nur von der Ernährung, sondern ebenso von Bewegung, Stress und Schlaf beeinflusst wird, kann beim Selbstexperiment eine zwanghafte Selbstüberwachung entwickeln.

Krawtchenko hat solche Fälle in ihrer Praxis schon erlebt. In der Regel sei es aber genau umgekehrt, sagt sie. «Ich bin froh, wenn meine Patienten anfangen, sich mit ihrer Ernährung auseinanderzusetzen.»

«Wir Mediziner erreichen die Konsumenten leider nicht mehr.»

Nadja Krawtchenko, Ärztin

Auch wenn Krawtchenko nicht mit allem einverstanden ist, was die Glucose Goddess verbreitet, mag sie nicht in die grundsätzliche Kritik vieler Diabetologen einstimmen. «Ärzte sollten die Geldmacherei der Nahrungsmittelindustrie anprangern, die uns krank macht, bevor sie auf eine Influencerin losgehen.»

Sie rechnet es Jessie Inchauspé hoch an, dass sie auf ein grosses gesundheitliches Problem – unseren übermässigen Zuckerkonsum – aufmerksam macht. Gesundheitliche Aufklärung finde heute über Influencer und auf Social Media statt. «Wir Mediziner erreichen die Konsumenten leider nicht mehr», sagt sie. «Jessie Inchauspé schliesst eine Lücke.»

Hinweis: Dieser Artikel wurde erstmals am 11. April 2025 veröffentlicht.