Das grosse Unbehagen
Die Welt verändert sich immer rasanter. Alles scheint in Umbruch zu geraten – selbst das Klima. Vor diesem Hintergrund sollten wir auch den Entscheid über den EU-Rahmenvertrag prüfen. Eine Einschätzung von Chefredaktor Andres Büchi.
Veröffentlicht am 27. Juni 2019 - 14:27 Uhr,
aktualisiert am 27. Juni 2019 - 11:17 Uhr
Wir alle spüren die Spannungen in der Politik, in der Arbeitswelt, im globalen Finanzsystem und in der Gesellschaft. Wir spüren, dass grosse Veränderungen und Umbrüche anstehen, die uns alle betreffen werden.
Deshalb verschärft sich der Diskurs auf allen Ebenen. In Europa sind die Gräben trotz aller gegenteiligen Bemühungen in den letzten Jahren eher grösser als kleiner geworden. Beispiele dafür liefern die desaströsen Finanzhaushalte einzelner gewichtiger Staaten wie Italien. Ebenso die Flüchtlingsproblematik, auf deren Herausforderungen Brüssel bisher keine Antwort gefunden hat. Aber auch das EU-Dogma der uneingeschränkten Personenfreizügigkeit ist ein Spaltpilz für einzelne Staaten und für die Gemeinschaft, wie das Gezerre um den Brexit belegt. Andererseits leiden Staaten wie Rumänien unter einem Brain Drain, also unter der Abwanderung gut ausgebildeter Leute in Länder mit deutlich höherem Lohnniveau, während Rentner aus Deutschland für den zahlbaren Lebensabend in günstigere Länder abwandern.
Den grossen Parteien, die lange Jahre die Geschicke der Länder bestimmten, scheinen taugliche Lösungsrezepte für die Zukunft abhanden gekommen zu sein.
Die Menschen sehen sich im EU-Raum vor allem als hochmobile Wirtschaftsfaktoren geschätzt, während sie sich bei ihren konkreten Problemen kaum noch abgeholt fühlen. Auch deshalb finden Basisbewegungen wie «Fridays for Future» vorab bei den Jungen Zuspruch. Sie fordern zu Recht eine dringend nötige ökologischere, zukunftsweisendere und auch fairere Wirtschaft, die auf geschundene Länder ebenso Rücksicht nehmen soll wie auf alle Bedürfnisse im eigenen Land. Immer ungeduldiger skizziert wird die Vision einer gerechten Gesellschaft , in der jede und jeder seine Talente im Beruf optimal einsetzen und seine privaten Wünsche gleichzeitig möglichst frei realisieren kann.
Man mag dies für ein utopisches Ziel halten. Dennoch müssen wir uns damit befassen, unser Wirken auf dem Planeten grundsätzlich zu hinterfragen. Doch mit unseren individuellen Anspruchshaltungen in den Wohlfahrtsstaaten des Westens verkennen wir eine wesentliche Wahrheit: Jedes Ding hat seinen Preis. Und je höher der Lebensstandard in einer Gesellschaft oder in einem bestimmten Land bereits ist, desto höher fällt dieser Preis aus. Deshalb müssen wir dringend über diesen Preis reden.
Exemplarisch dafür steht in der Schweiz die Diskussion um das Rahmenabkommen (InstA) mit der EU. Die EU sieht im Abkommen die Möglichkeit, die Schweiz endlich auf Linie zu zwingen und deren Sonderstellung in der Mitte Europas zu beenden.
Die Befürworter argumentieren, die Schweiz müsse zwingend einlenken und das Abkommen unterzeichnen, um die indirekt damit verschränkten bilateralen Verträge nicht zu riskieren und die Geschäfte mit unserem wichtigsten Handelspartner im Interesse unseres Wohlstands ja nicht zu gefährden. Die Gegner verweisen auf einen ungenügenden Schutz vor Dumpinglöhnen und auf drohende Einschränkungen in unseren demokratischen Entscheiden.
Ein für beide Seiten tragbarer Kompromiss – des Schweizers liebste Lösung – scheint kaum in Sicht zu sein. Zwar soll es Spielraum für Präzisierungen geben, aber von Nachverhandlungen will die EU nichts wissen. Der Vertrag liegt auf dem Tisch, und in den wesentlichen Punkten wird Brüssel nicht davon abrücken. Denn auch die EU weiss, dass stürmische Zeiten im Anzug sind. Sie will nicht zulassen, von ihren Zielen einer «immer engeren Union» abzurücken.
So lautet die Gretchenfrage, um die es wirklich geht: Wie hast Du’s mit der EU? Wie stehen wir für die Zukunft besser da? Eng an die EU gekoppelt oder nur so leicht wie nötig liiert?
Wir hoffen noch immer, irgendwie davonzukommen und mehr oder minder so weitermachen zu können wie bisher. Doch wir sollten ehrlich sein: Wir werden auf absehbare Zeit hinaus konfrontiert sein mit harten Verteilkämpfen im zwischenstaatlichen, aber auch im gesellschaftlichen Bereich. Vor diesem Hintergrund müssen wir auch den Entscheid übers InstA-Abkommen treffen.
Wir haben zwei Optionen. Sagen wir Ja zum Vertrag, helfen wir unseren Export- und Importfirmen. Der ganzen Wirtschaft soll der Entscheid wichtige Sicherheiten geben, den gewohnten Handel möglichst ungehindert weiterzuführen. Die Zuwanderung wird aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch sehr hoch, mindestens aber komplett unkalkulierbar bleiben – mit allen positiven wie negativen Konsequenzen. Unsere politischen Handlungsfreiheiten werden begrenzt, und der Siedlungs- und Infrastrukturdruck mit seinen hohen Kostenfolgen wird weiterhin zunehmen. Zudem droht mittelfristig eine Einwanderung in unser (noch) einigermassen robustes Sozialsystem.
Sagen wir Nein zum Vertrag, werden wir mit ebenso hoher Wahrscheinlichkeit einen wirtschaftlichen Einbruch zu verdauen haben. Es drohen Handelshemmnisse, Firmenabwanderungen, Stellenverluste, internationaler Reputationsschaden. Andererseits dürfte der Siedlungsdruck abnehmen, der Verkehr besser zu bewältigen sein, der politische Gestaltungsraum für die Schweiz deutlich grösser bleiben, was auch zukunftsweisende Projekte in Eigenregie ermöglicht.
Beide Varianten haben also einen hohen Preis. Es ist der Preis für den Wandel, der auf globaler Ebene in jeder Hinsicht bevorsteht. Der bequeme Weg, wie wir ihn in den letzten Jahren gewohnt waren, kommt an eine Gabelung. Wir haben die Wahl, uns einer Wandergruppe anzuschliessen oder den Solopfad zu nehmen.
Der Weg in der Wandergruppe scheint der vermeintlich leichtere zu sein. Er dürfte uns noch etwas mehr Zeit verschaffen, bis der härtere Teil kommt. Doch die Rechnung für unser quantitatives Wachstum zeichnet sich bereits ab, auf sozialer Ebene, und – am deutlichsten sichtbar – in unserer Umwelt . Wenn wir keinen Steuerungsmechanismus für das Bevölkerungswachstum verankern können, verbauen wir uns sprichwörtlich die Zukunft.
Der andere, der Soloweg wird uns sofort herausfordern. Die Exportwirtschaft wird stöhnen, wir werden Sparprogramme sehen, soziale Ausbauwünsche streichen und unsere eigene Wettbewerbsfähigkeit verbessern müssen. Der Immobilienboom dürfte jedoch gebremst werden, die Preise könnten ins Rutschen geraten, was Mietern entgegenkommt, aber Eigentümer belasten würde.
Die Hoffnung und die Chance des Solowegs besteht darin, dass der Mensch immer dann am besten ist, wo er überschaubare Lebensräume selber gestalten und mit direkt sichtbarer Wirkung Verantwortung übernehmen kann. Oder, wie es die Glücksforschung belegt: Je eigenständiger man handeln kann, desto glücklicher ist man.
Bisher ist die Schweiz mit diesem Kurs sehr gut gefahren, trotz aller Angstszenarien. Ja, er hat uns auch stark gemacht. Denn etwas hat die Geschichte immer wieder gezeigt: Je härter die Prüfung, desto fitter und flexibler sind am Ende die Teilnehmer.
Auf lange Sicht eröffnet der eigenständige Weg damit vielleicht grössere Chancen zur Zukunftsgestaltung als, in einer disparaten Gruppe eingebunden, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen.
Nun allerdings leben wir in Umbruchzeiten. Und allgemeine Rezepte verlieren da gerne ihre Tauglichkeit. Wenn etwa ein Sturm kommt, wenn grosse Umwälzungen schnell erfolgen, sind wir in der Gruppe möglicherweise sicherer – aber eben auch weniger reaktionsfähig. Auf die Gretchenfrage gibts damit keine leichte Antwort. Vieles hängt vom persönlichen Glauben daran ab, wie wir die globale Entwicklung in nächster Zeit einschätzen.
Sicher ist eines: Dieser Entscheid darf nicht allein der Politik überlassen werden, er wird vom Volk gefällt werden müssen.
3 Kommentare
Zwei Vertragspartner vereinbaren etwas, das beide in diesem Zeitpunkt, aus welchen Gründen auch immer, wollen. Nun dreht sich die Welt, Umfelder verändern sich, und es ist durchaus möglich, dass einer der Vertragspartner (oder gar beide) nach einer gewissen Zeit der Ansicht sind, dass der Inhalt des Vertrages den neuen Umständen angepasst werden sollte. Kann man sich nicht einigen, besteht immer noch die Möglichkeit, den Vertrag zu kündigen. Dies, wenn eine Kündigung dem unzufriedenen Vertragspartner sinnvoller erscheint als die Aufrechterhaltung des Vertrages.
Die bilateralen Verträge sind wichtig. Und von den derzeit über 120 bilateralen Verträgen mit der EU existiert nur einer, der gekündigt werden soll - wofür es gute Gründe gibt.
Würde das Rahmenabkommen unterzeichnet, verliert der eine Vertragspartner (die Schweiz) faktisch sämtliche Rechte als Vertragspartner, da über sämtliche bilateralen Verträge eine Guillotineklausel (vgl. Bilaterale I) gestülpt wird. Zudem entscheidet bei Streitigkeiten das Gericht der einen Partei (EU). Bei Anpassungen, welche die Schweiz demokratisch ablehnt, werden Sanktionen ergriffen (ein Vorgeschmack gibt die Drohung bezüglich Börsenäquivalenz).
Wer den bilateralen Weg weitergehen will, muss logischerweise das Rahmenabkommen ablehnen.
Ein Beispiel für einen mehrfach einseitig geänderten Vertrag ist das Verbot aus gekauften Kernkraftwerken Brennstäbe zu entnehmen um mit dem darin enthaltenen Plutonium Kernwaffen zu bauen. Der Iran, noch mit dem Schah, hat den Vertrag als erstes Land unterschreiben. Heute wird behauptet, der Iran verletze den (modifizierten) Vertrag, es droht Krieg. Israel und Indien haben den Vertrag nie unterschrieben, bauen eigene Kernkraftwerke und Bomben. Es gibt keinen Anlass etwas dagegen zu sagen.
Für die Behauptung im Artikel, dass bei Annahme des InstA mittelfristig eine Einwanderung das Sozialsystem der Schweiz drohe, fehlt jede sachliche Basis. Weder das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU noch von der Schweiz (noch) nicht übernommenes Freizügigkeitsrecht der EU geben nichterwerbstätigen Personen ein Recht auf Einwanderung in einen anderen EU-Mitgliedstaat, einen anderen EWR-Mitgliedstaat oder in die Schweiz, wenn diese nicht nachweisen, dass sie für sich selbst und ihre Familienangehörigen über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen und das sie über einen Krankenversicherungsschutz verfügen, der sämtliche Risiken abdeckt. Ich bin schockiert, wenn der Beobachter den rechtskonservativen Propagandabegriff der "Einwanderung ins Sozialsystem" benutzt. Der Autor hätte vorher Artikel 6 und Artikel 24 des Anhangs I des Personenfreizügigkeitsabkommens und die entsprechenden EU-Richtlinien durchlesen und sich über die Rechtspraxis in der EU und dem EWR informieren sollen.