«Mut ist ein Muskel – er kann auch verkümmern»
Jahrezehntelang hat Röbi Koller durch den Prix Courage geführt. Eine Woche vor der diesjährigen Verleihung sagt er, von welchem Mut die Schweiz mehr braucht.
Veröffentlicht am 22. Oktober 2021 - 10:25 Uhr
Beobachter: Röbi Koller, arm ist das Land, das Helden braucht, schrieb Bertolt Brecht. Braucht die Schweiz Prix-Courage-Nominierte?
Röbi Koller: Jedes Land braucht Helden. Vielleicht keine Winkelrieds mehr, die sich in der Schlacht vor einen Speer werfen. Aber dafür Nawalnys, Kolesnikowas oder Assanges
. Klar, wir leben in einem Land, in dem es den meisten gut geht, das stabil und sicher ist. Doch auch in der Schweiz passieren Ungerechtigkeiten. Die Nominierten des Prix Courage stehen dagegen ein.
Mehr als 20-mal haben Sie diese verkünden dürfen. Wer hat Sie am meisten beeindruckt?
Es ist unmöglich, sie gegeneinander auszuspielen. Aber es gibt viele Preisträgerinnen und Preisträger, die ich nicht vergessen werde. Darf ich ausholen?
Ja, bitte.
Zum Beispiel die beiden Preisträger des allerersten Prix Courage 1997, zu Ehren des 70. Geburtstags des Beobachters: Angela Ohno und Hanspeter Heise, die Whistleblower der Zürcher Klärschlammaffäre. Oder Ruth Ramstein und ihr Kampf gegen sexuellen Missbrauch in der Schulbehörde. Herbert Haag, der sich gegen erstarrte Dogmen in der katholischen Kirche gewehrt und den Zorn des Vatikans auf sich gezogen hat. Malica Skrijelj, die für gleichberechtigte Löhne gekämpft hat. Die Sektenaussteigerin Lea Saskia Laasner oder Diego Barberis, der ein Baby und ein Kleinkind aus einem brennenden Auto gerettet hat. Auch Lukas Klauser und Philip Lechner, die gegen Asbest am Arbeitsplatz gekämpft haben. Ich könnte lange so weitermachen.
Was haben all diese Heldinnen und Helden gemeinsam?
Sie alle haben für ihr Engagement einen Preis bezahlt. Sie haben sich als Lebensretter in gefährliche Situationen begeben oder haben gegen Missstände gekämpft, waren unbequem, stur und wegen ihres Engagements auch viel Gegenwind ausgesetzt. So quer in der Landschaft zu stehen, muss man aushalten können.
«Mut ist ein Muskel. Wenn man Missstände schluckt oder sich sagt, dass die Leute selbst schauen müssen, dann kann er verkümmern.»
Röbi Koller, Moderator
Sind die Nominierten des Prix Courage mutiger als andere?
Das kommt auf die Definition von Mut an. Ist es Mut, der einem dazu bringt, politisch und sozial eine Linie zu fahren und beharrlich zu kämpfen, wenn diese Linie einmal überschritten wird? Oder ist man per se mutig, wenn man sich in einer Millisekunde dafür entscheidet, einzugreifen und das Richtige zu tun? Auf jeden Fall glaube ich, dass man diesen Bürgermut trainieren kann
.
In einem Bootcamp für Zivilcourage?
Indem man die Augen für Ungerechtigkeiten offen hält. Und im Kleinen immer wieder couragiert handelt. Das kann so einfach sein, wie den Teenager im Tram zu fragen, ob er der älteren Dame seinen Sitz frei macht. Mut ist ein Muskel. Wenn man Missstände schluckt oder sich sagt, dass die Leute selbst schauen müssen, dann kann er verkümmern.
Was hat der Prix Courage bewirkt?
Er hat Debatten angeregt, wenig gehörten Gruppen eine Stimme verliehen. Er ist zur Aufforderung geworden, genau hinzuschauen, wenn Sachen schieflaufen. Und er hat unter anderem dafür gesorgt, dass Whistleblowerinnen und Whistleblower besser geschützt werden und nicht mehr länger die Verräter sind, als die sie lange bezeichnet wurden. Bei Whistleblowing geht es ja nicht nur um den Vorteil von Einzelnen, sondern immer auch um den Nachteil von anderen. Und dieses Engagement hat Schutz und Wertschätzung verdient.
Der Moderator Röbi Koller, 63, arbeitet seit über 30 Jahren für das Schweizer Fernsehen und Radio. Fast 25 Jahre lang hat er durch die Prix-Courage-Verleihung geführt.