Unis, Nemo, Zwangsmassnahmen
Wurde die Schweiz diese Woche gerechter, transparenter, fortschrittlicher? Und wo gings rückwärts? Der Nachrichtenüberblick des Beobachters für die Woche vom 13. Mai 2024.
Liebe Leserinnen und Leser
Willkommen zu «Das war richtig wichtig». Hier ordnen wir die wichtigsten Nachrichten der vergangenen Woche für Sie ein.
Diesmal:
- Besetzte Schweizer Unis: Was die Studenten fordern – und warum das zu weit geht
- Eurovision Song Contest: Nach dem Sieg gibts Misstöne
- Fremdplatzierung und Zwangsmassnahmen: Forscher sehen weiter Handlungsbedarf
Sie können diese Nachrichtenübersicht auch als E-Mail abonnieren. Damit haben Sie «Das war richtig wichtig» immer pünktlich im Postfach.
Melden Sie sich doch gleich an:
Rire, c’est bon pour la santé. Erinnern Sie sich noch an die Rede des damaligen Bundespräsidenten Johann Schneider-Ammann zum Tag der Kranken, bierernst vorgetragen und gerade deswegen furchtbar lustig?
Ein paar Tage danach sagte Bundesratssprecher André Simonazzi, die Informationsverantwortlichen der Bundesverwaltung hätten jetzt beschlossen, alle Videos von Bundesratsreden unter ein neues Motto zu stellen:
«Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.»
André Simonazzi ist am vergangenen Freitag auf einer Wanderung überraschend zusammengebrochen und gestorben. Er wurde 55 Jahre alt. Vergessen wird man ihn nicht so schnell. Dafür hat er in seinen 15 langen Jahren als Sprecher die politische Schweiz zu sehr geprägt. Nicht indem er selber grosse Reden hielt. Sondern indem er zuverlässig, effizient und skandalfrei anderen – all den Bundesräten, die in seiner Amtszeit kamen und gingen – die Bühne baute, damit sie mit der Bevölkerung über ihre Entscheide reden konnten. Unser herzliches Beileid seinen Angehörigen.
Besetzte Schweizer Unis: Was die Studierende fordern – und warum das zu weit geht
Darum gehts: An fast allen Schweizer Universitäten protestierten Studentinnen und Studenten diese Woche gegen Israel und die Kriegsführung in Gaza. Zahlreiche Räume und Hallen wurden besetzt, teilweise löste die Polizei die Versammlungen auf, überall blieb es dabei aber friedlich. Die Forderungen der Protestierenden sind unterschiedlich: Sie reichen von einer offiziellen Stellungnahme der Unis gegen den Krieg bis zur Auflösung jeglicher Zusammenarbeit der Schweizer Hochschulen mit israelischen Universitäten und Institutionen.
Warum das wichtig ist: Hochschulen stehen für internationale Vernetzung und Zusammenarbeit, ebenso für die Auseinandersetzung mit dem, was in der Welt geschieht. Auch an Universitäten wird darum Politik gemacht, indem Öffentlichkeit entsteht. In vielen historisch bedeutsamen Bewegungen wie der Bürgerrechtsbewegung in den USA, der Anti-Atomkraft-Bewegung oder den Klimabewegungen spielten Universitäten eine wichtige Rolle.
Das sagt der Beobachter: Gesellschaftliche Debatten dürfen und sollen auch an Universitäten ausgetragen werden. Dass Studierende gegen einen Krieg protestieren, ist immer legitim. In diesem Fall erstaunt es aber, wie einseitig und unreflektiert manche Voten der Protestierenden sind. Es gibt keine stichhaltigen Gründe, warum die Unis ihre Forschungszusammenarbeit mit israelischen Hochschulen einstellen sollten. Das zeigt unser Bericht darüber, wie und wo diese Zusammenarbeit stattfindet.
⇒ Jetzt lesen: So arbeiten Schweizer Universitäten mit Israel zusammen
Über «Das war richtig wichtig»
Was hat die Schweiz diese Woche gerechter, transparenter, fortschrittlicher gemacht? Und wo gings eher rückwärts? Wo weiterlesen, wenn Sie es genauer wissen möchten? Wir liefern Ihnen immer freitagmittags drei bis vier wirklich wichtige Nachrichten – kompakt, verständlich und mit Haltung aufgeschrieben. Auch als E-Mail abonnierbar.
Eurovision Song Contest: Nach dem Sieg gibts Misstöne
Darum gehts: In der Nacht auf Sonntag gewann Nemo für die Schweiz den Eurovision Song Contest (ESC). Damit wird der Musikwettbewerb nächstes Jahr in der Schweiz ausgerichtet – durch das öffentlich-rechtliche Radio und Fernsehen, die SRG. Auf sie kommen nun Ausgaben von deutlich über zehn Millionen Franken zu, was bereits für Diskussionen sorgt. So liess etwa der Berner Regierungspräsident verlauten, dass er den «durch und durch korrupten ESC» nicht in seinem Kanton haben wolle.
Warum das wichtig ist: Anders als eine Fussballweltmeisterschaft oder Olympische Spiele ist der ESC kaum je ein Verlustgeschäft für das Gastgeberland. So pfiff der Berner Regierungsrat seinen Präsidenten denn auch schnell zurück, indem er diesem widersprach, man sei sehr wohl offen dafür. Das Timing ist aus einem anderen Grund heikel: Spätestens 2026 steht die sogenannte Halbierungsinitiative zur Abstimmung, die das Budget der SRG stark kürzen will. Die Initianten möchten, dass sich die SRG künftig auf ihren Informationsauftrag konzentriert – auf Kosten der Unterhaltung.
Das sagt der Beobachter: Typisch Schweiz. Da nörgelt man jahrelang, dass man sowieso keine Chance habe, den ESC zu gewinnen. Und kaum tut man es doch, fragt man, wer das denn jetzt wieder bezahlen solle. Die Kosten sind für ein reiches Land problemlos verkraftbar – zumal die Europäische Rundfunkunion auch einen Teil zuschiesst. Der SRG könnte der ESC-Sieg politisch aber tatsächlich noch Kopfschmerzen bereiten. Zumal Nemo, selber nonbinär, nach seinem Sieg auch einen offiziellen Eintrag für ein drittes Geschlecht gefordert hat. Wasser auf die Mühlen aller, die gerne über «linkes Staatsfernsehen» wettern.
⇒ Jetzt lesen: Drittes Geschlecht – so halten es andere Länder damit
Fremdplatzierung und Zwangsmassnahmen: Forscher sehen weiter Handlungsbedarf
Darum gehts: Unter dem Begriff der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen steckten Behörden jahrzehntelang mehrere Hunderttausend Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Heime, Erziehungsanstalten, verdingten sie auf Bauernhöfen und steckten sie in Gefängnisse. Unverheiratete schwangere Frauen wurden zur Abtreibung gedrängt, zwangssterilisiert, oder man nahm ihnen nach der Geburt die Kinder weg. Diese Woche präsentierten Forschende die Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms (NFP) «Fürsorge und Zwang – Geschichte, Gegenwart, Zukunft». Daraus wird klar: Betroffene leiden bis heute unter «Massnahmen», die vor Jahrzehnten angeordnet wurden.
Warum das wichtig ist: Betroffen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen waren oft Menschen aus ärmlichen, zerrütteten Verhältnissen. Statt dass man sie unterstützt hätte, wurden sie bestraft. Sie galten als «liederlich» und wurden als «Taugenichtse» bezeichnet. Sie wurden zur «Nacherziehung» in Anstalten gesteckt, auch in Gefängnisse. Ohne dass sie eine Straftat begangen hatten und von einem Gericht verurteilt worden wären. Seit 2017 haben 150 Forscherinnen und Forscher dieses Thema aus unterschiedlichen Aspekten untersucht. Dieses NFP 76 lancierte der Bundesrat als Teil der Aufarbeitung, um Merkmale, Mechanismen und Wirkungen dieser Fürsorgepolitik und -praxis und des Sozialwesens zu untersuchen. Daraus wurden schliesslich 29 Forschungsprojekte, welche die damalige und die heutige Praxis der Fürsorge und des Kindes- und Erwachsenenschutzes untersuchten.
Das sagt der Beobachter: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen waren jahrzehntelang eine Art organisierte Willkür. Behörden statuierten Exempel, wenn jemand nicht den gesellschaftlichen Moralvorstellungen entsprach. Das ist heute nicht mehr denkbar. Aber verändert hat sich an der Ausgangslage wenig: Als Gesellschaft sind wir jenen verpflichtet, die Hilfe benötigen, die in einer prekären Lage leben und in einer schwierigen persönlichen oder familiären Situation stecken. Dabei dürfen wir heute nicht die gleichen Fehler machen wie damals. Auch Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Selbstbestimmung. Oft ist aber auch heute ihre Mitwirkung bei behördlich angeordneten Massnahmen nicht gewährleistet. Deshalb gibt es nur einen Weg: Der Kindes- und Erwachsenenschutz muss immer wieder hinterfragt und weiter verbessert werden. Dabei dürfen wir aber all jene nicht vergessen, die vor Jahrzehnten von Zwangsmassnahmen betroffen waren: Verdingkinder, administrativ Versorgte, Zwangsadoptierte, Zwangssterilisierte. Viele leben heute in äusserst bescheidenen Verhältnissen oder sind gesundheitlich angeschlagen. Als Teil unserer Gesellschaft brauchen sie unsere Unterstützung – finanziell und moralisch. So schnell werden wir das Thema nicht los.
⇒ Jetzt lesen: Fremdplatzierte leiden ein Leben lang – und sterben früher
Hatten Sie diese Woche das Couvert im Postfach? Vier Wochen bis zur nächsten eidgenössischen Abstimmung, vier Vorlagen auf dem Zettel. Zwei davon betreffen ein Kernthema dieses Nachrichtenüberblicks: die steigenden Gesundheitskosten (und was man dagegen tun kann). Hier was Sie zur Prämienentlastungs-Initiative wissen sollten. Und hier dasselbe zur Kostenbremse-Initiative.
Geschrieben haben diesen Überblick diesmal Oliver Fuchs, Chantal Hebeisen und Otto Hostettler.
Bis nächste Woche. Wir bleiben für Sie dran.
2 Kommentare
NEIN zum ESC in der Schweiz: Regenbogen-Propaganda!
Warum? Die meisten Leute nervt die woke Regenbogen-Propaganda. Man hat in Schweden die Pandora-Box geöffnet und sitzt jetzt in der Gender-Falle. Zudem ist die Veranstaltung für jede Stadt ein finanzielles und sicherheitspolitisches Risiko.
Dass Regierungspräsident Müller Recht hat mit seinen Äusserungen kann ganz deutlich am ertrogenen Sieg Nemos nachgewiesen werden. Wer hat NICHT die offizielle Landesfahnen getragen beim Einmarsch? Eben Nemo mit einem undefinierbaren Stück Stoff. Konsequenzen? Keine! Wer hat die Punkte Nemo gegeben, eben, die Jury. Noch Fragen offen?