«Wir könnten den Lockdown relativ gut überstehen, wenn ...»
Die Schweiz ist im internationalen Vergleich wenig verschuldet. Deshalb können wir uns die Staatshilfe leisten, sagt der Ökonom Mathias Binswanger.
Veröffentlicht am 23. April 2020 - 18:36 Uhr
Beobachter: Wie teuer kommt uns der Lockdown?
Mathias Binswanger: Wir bezahlen einen hohen Preis. Aber wir müssen auch sehen: Ohne die Hilfskredite und die grosszügige Regelungen bei der Kurzarbeit hätten wir bereits eine hohe Arbeitslosigkeit und viele Unternehmenspleiten. Wenn der Lockdown nur bis Mai dauert, werden wir das relativ unbeschadet überstehen. Wenn der Stillstand aber bis Sommer oder gar Herbst andauert, dann wird die Wirtschaft in eine grössere Krise rutschen.
Was meinen Sie mit relativ unbeschadet?
Das Bruttosozialprodukt, also der Wert aller produzierten Waren, wird um weniger als zehn Prozent zurückgehen. Auch die Arbeitslosigkeit wird unter zehn Prozent bleiben. Das können wir verkraften. Historisch betrachtet wäre der Coronaschock aber auch in diesem günstigen Fall immer noch ein einzigartiges Ereignis.
Und wenn der Lockdown länger dauert?
Dann wird die auf Wachstum ausgelegte Wirtschaft in eine gefährliche Abwärtsspirale geraten. Viele Unternehmen werden Konkurs gehen und damit als Nachfrager von Güter und Diensleistungen ausfallen. Das wiederum wird die Zulieferbetriebe in Schwierigkeiten bringen. Die stark steigende Arbeitslosigkeit wird den Konsum senken, was wiederum die Unternehmen zu spüren bekommen werden. Weitere Entlassungen werden folgen, weitere Konkurse und so weiter.
Experten sagen, das Tückische dieser Krise sei Kombination eines Angebots- und Nachfrageschocks.
Von einem Angebotsschock kann man im Augenblick eigentlich nicht sprechen. Kennzeichen dafür wären ja eine Schrumpfung des Angebots bei gleichzeitigem Anstieg der Preise, eine sogenannte Stagflation. Das ist im Augenblick überhaupt nicht der Fall. Die Preise steigen nicht. Güter werden nicht generell knapp wie etwa bei der Ölkrise 1973. Es kommt höchstens zu Unterbrüchen bei einzelnen Produkten. Das Hauptproblem ist die Nachfrage, die man jetzt eben künstlich ausgeschalten hat.
War das richtig?
Ja, das war wahrscheinlich unumgänglich. Es war aber auch wichtig, dass wir eine Perspektive bekommen haben, so wie es Österreich auch gemacht hat. Die schrittweise Aufhebung ist richtig, alles andere wäre übertrieben gewesen.
Der Bundesrat hat zu Beginn der Krise relativ schnell umfangreiche Finanzhilfen in Höhe von 50 Milliarden gesprochen. Wo kommt dieses Geld her?
Das sind ja zum grössten Teil Bürgschaften für die Hilfskredite der Privatbanken. Mit einiger Wahrscheinlichkeit muss ein grosser Teil dieses Geldes also gar nicht gezahlt werden. Der Rest wird finanziert, indem sich der Bund mit der Ausgabe von Wertpapieren selber verschuldet. Diese Wertpapiere werden frei gehandelt. Die Neuverschuldung kann sich der Bund leisten, weil die aktuelle Verschuldungsquote auch im Vergleich mit unseren Nachbarländern relativ tief ist. Und die Bedingungen sind ausgezeichnet, statt Zins zahlen zu müssen, bekommt er sogar noch ein wenig gutgeschrieben.
War die Massnahme richtig?
Ja. Es war wichtig, die Liquidität der Unternehmen zu sichern, und es war richtig sicherzustellen, dass alle Firmen, die Unterstützung beantragt haben, diese auch bekommen haben. Die Kredite müssen innerhalb von fünf Jahren zurückbezahlt werden. Das wird nicht allen gelingen. Hier plädiere ich für grosszügige Lösungen, etwa eine Verlängerung der Rückzahlungsfrist. Natürlich werden mit den Hilfen vereinzelt auch Unternehmen gerettet, die auch ohne die Krise pleite gegangen wären. Aber das ist jetzt das kleinere Übel.
Wie wird sich der Kurs des Frankens entwickeln?
Er wird steigen, und er wäre in den vergangenen Wochen wohl noch stärker gestiegen, wenn die Nationalbank nicht interveniert hätte.
Wie wird die Krise Europa verändern?
Die EU und der Euro werden überleben. Die Coronakrise ist ja keine Währungskrise. Brüssel gab zwar ein schwaches Bild ab, aber der Einfluss der EU wurde schon vor der Krise überschätzt. Corona hat lediglich zu Tage gefördert, was etwas versteckter schon vorher galt: Wenn es hart auf hart kommt, entscheiden die Mitgliedsstaaten aufgrund ihrer eigenen Interessen. Corona hat aber sicher der Globalisierung einen Dämpfer versetzt.
Inwiefern?
Man hat gemerkt, dass eine lokale Versorgung mit wichtigen Gütern wie Lebensmitteln oder Medikamenten lebensnotwendig sein kann. Das Bewusstsein für die Risiken, die mit der Wahl der günstigsten Produktionsbedingungen in weit entfernten Ländern verbunden sind, ist gestiegen.
Der internationale Warenfluss wird also zurückgehen?
Insgesamt wohl kaum. Ich glaube eher, dass die globalisierte Produktion
durch lokale Strukturen ergänzt wird. Wir müssen uns überlegen, wo Globalisierung sinnvoll ist und wo nicht.
«Wenn es nicht so gut läuft, ist man sehr schnell bereit, Freiheit aufzugeben.»
Mathias Binswanger, Professor für Volkswirschaftslehre
Erstaunlich ist, wie wenig Börse und Finanzsystem tangiert wurden.
Es ist ja keine Finanzkrise wie im Jahr 2008. Die Börse wird von Erwartungen gesteuert, wie sich die langfristigen Gewinne entwickeln werden und nicht von kurzfristigen, begrenzten Einbrüchen. Die Anleger scheinen diese Chancen intakt zu sehen.
Wer also auf eine Rückbesinnung und Neuorientierung des Finanzsystems durch Corona gehofft hatte, wird enttäuscht.
Ja, die Aufmerksamkeit liegt jetzt auf kurzfristige und schnelle Unterstützung der Unternehmen. Das ist typischerweise nicht eine Situation, wo man Gedanken über ein neues Wirtschaftssystem macht. Veränderungsprozesse, beispielsweise in Richtung eines schonenderen Umgangs mit Menschen und Ressourcen können eher angestossen werden, wenn die Wirtschaft gut läuft.
Viele geben der Krise eine persönliche Interpretation und Deutung. Geht Ihnen das auch so?
Der Lockdown und das quasi zu Hause Eingesperrt-Sein
befördern natürlich solche Gedanken. Man ist mit sich selber konfrontiert und fragt sich, ob das, was man treibt, auch Sinn macht. Ich glaube aber nicht, dass nun die Krise bei einem Grossteil einen persönlichen Reifungsprozess auslösen wird. Ich vermute eher, dass sie ziemlich schnell vergessen gehen wird.
Was sagt das über uns und unsere Gesellschaft?
Wir wachsen von klein auf in eine Gesellschaft hinein, die auf die Zukunft ausgerichtet ist und nicht auf Selbstbesinnung. Wir sollen uns anstrengen und noch mehr machen, noch besser und grossartiger werden. Diese Prägung kann nicht durch eine vierwöchige Krise aufgehoben werden. Hinzu kommt, dass nur der freiwillige Verzicht Befriedigung verschafft und dadurch nachhaltig ist. Wenn ich gezwungen werde, in ein Kloster einzutreten, erlebe ich das als Bestrafung. Erst wenn ich die positiven Seiten des Verzichts sehe, trete ich gerne ein. Oder anders gesagt, der Wert des Essens erschliesst sich mir erst, wenn ich Hunger habe. In unserer Gesellschaft scheint aber zunehmend nicht mehr das Problem zu sein, wie ich das Essen bekomme, sondern den Hunger. Mir fällt bei vielen auch eine Art klammheimliche Freude an der Katastrophe auf.
Wo kommt diese Freude her?
Es geht uns gut, vielleicht zu gut. Und daraus scheint ein Bedürfnis zu entstehen nach Gefahren. Viele Medien bedienen dieses Bedürfnis sehr zielsicher, weil es Klicks bringt. Man zelebriert den Notstand und übertreibt seine Auswirkungen. Italien ist sofort aus dem Fokus der Medien geraten, als sich die Lage stabilisierte. Stattdessen wurden Spanien und dann die USA zum Thema, weil da mehr Schreckensnachrichten
zu holen waren. Positive Nachrichten scheinen ein Tabu sein, besonders wenn sie China betreffen.
Der Lockdown hat unsere Freiheiten stark eingeschränkt. Fürchten Sie, dass ein Teil dieser Einschränkungen über die Krise hinaus aufrechterhalten werden.
In der Schweiz sehe ich diese Gefahr nicht. Aber es schadet nichts, sehr aufmerksam hinzuschauen. Gerade beim Digital-Tracking könnte sich die Meinung durchsetzen, das habe bei Corona gut funktioniert und es könnte sich auch bei anderen Sicherheitsproblemen bewähren. Ich glaube, der Wille zur Freiheit ist bei vielen Menschen weniger stark entwickelt, als wir das gemeinhin annehmen. Freiheit ist ein Schönwetterbegriff. Wenn alles gut läuft, dann sind wir auch gern frei. Wenn es nicht so gut läuft, ist man sehr schnell bereit, die Freiheit aufzugeben und sich Regeln zu unterwerfen. Es lohnt sich, hier wachsam zu sein.
Mathias Binswanger, 57, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten, Privatdozent an der Universität St. Gallen und Buchautor.