Arbeiten bis zum Umfallen
Stress am Arbeitsplatz nimmt zu. Immer mehr Arbeitnehmer überschreiten bewusst Grenzen - und zahlen mit einer Erschöpfungsdepression. Sind auch Sie gefährdet?
Veröffentlicht am 20. August 2014 - 15:57 Uhr
Arbeiten bis zum Umfallen: Experten prägten dafür den Begriff «interessierte Selbstgefährdung». Werktätige gehen krank zur Arbeit, verzichten auf Erholungspausen, arbeiten zehn Stunden am Tag, am Wochenende oder in den Ferien. «Wer aus Angst vor Misserfolg oder in der Hoffnung auf Erfolg die Risiken für die eigene Gesundheit ignoriert, will sich dabei nicht stören lassen. Die Gesundheitsgefährdung wird verheimlicht. Das ist neu», sagt Andreas Krause, Spezialist für betriebliches Gesundheitsmanagement. Früher hätten Chefs befürchtet, dass gesunde Mitarbeiter krankfeierten, heute täuschten die Mitarbeiter dem Chef Gesundheit vor.
Die Ursache sieht Krause in neuen Managementkonzepten, mit denen sich die Produktivität steigern lässt. Viele Firmen hätten Profitcenter und die Orientierung an Benchmarks eingeführt. Mitarbeitende erhielten Zielvorgaben; wie sie das Ziel erreichten, bleibe ihnen überlassen. Bei Nichterreichen von Renditezielen drohe die Schliessung von Werkteilen oder Abteilungen. «Die neuen Führungsmethoden tragen den marktwirtschaftlichen Wettbewerbsdruck weit ins Unternehmen hinein. Im Prinzip machen sie jeden Mitarbeitenden zu einem kleinen Entrepreneur», sagt Krause. So steigt die Rendite – aber auch der Stress für die Beschäftigten.
Das belegt eine Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). 34 Prozent der Erwerbstätigen gaben 2010 an, im Beruf «häufig» oder «sehr häufig» Stress zu erleben. Zehn Jahre früher waren es 26 Prozent gewesen. Der Anteil chronisch gestresster Werktätiger stieg damit um 30 Prozent. Im Jahr 2000 schätzte das Seco die stressbedingten Absenz- und Behandlungskosten auf 4,2 Milliarden Franken.
Die genauen Ursachen für das Burn-out-Syndrom sind bisher nicht ausreichend geklärt. Mögliche Ursachen finden sich jedoch in den Belastungen beziehungsweise Überlastungen des jeweiligen Berufsumfeldes.
Das Burn-out-Syndrom scheint eine Folge von grossem Idealismus, überhöhten Erwartungen an den Job und dem tatsächlichen Alltag zu sein. Gerade Betroffene, die mit grossem Engagement für andere Menschen da sind, deren Leistungen aber kaum durch Vorgesetzte anerkannt werden, haben ein erhöhtes Risiko, sich innerlich zu verausgaben.
Um einer Erschöpfungsdepression vorzubeugen, ist es wichtig, erste Anzeichen rechtzeitig zu erkennen.
Unter dem Begriff Burn-out-Syndrom versteht man einen Zustand totaler körperlicher, emotionaler und geistiger Erschöpfung sowie verringerter Leistungsfähigkeit. Übersetzt bedeutet der aus dem Englischen stammende Begriff Burn-out so viel wie «Ausbrennen». Personen mit Burn-out fühlen sich extrem erschöpft und häufig innerlich leer.
Es gibt jedoch kein einheitliches Krankheitsbild. Es können verschiedene körperliche oder psychische Symptome auftreten, die sich nicht plötzlich, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg entwickeln. Für die körperlichen Beschwerden finden sich beim Burn-out-Syndrom jedoch keine organischen Ursachen. Sie entstehen psychosomatisch.
Als körperliche Beschwerden können beim Burn-out-Syndrom unter anderem auftreten:
- Muskelverspannungen
- Kopfschmerzen
- Magen-Darm-Beschwerden (z. B. Übelkeit, Bauchkrämpfe oder Magenschmerzen)
- Schwindel
- Gleichgewichtsstörungen
- Schlafstörungen
- erhöhte Anfälligkeit für Infekte
- Herzklopfen
Häufige psychische Beschwerden sind beim Burn-out-Syndrom zum Beispiel:
- sinkendes Selbstvertrauen
- stärkere Verletzlichkeit in Bezug auf Enttäuschungen oder Verluste
- erhöhte Stressanfälligkeit
- sinkende Arbeitszufriedenheit
- Anzeichen einer Depression wie z. B. gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit oder Interessenverlust
Ergreifen Sie bereits bei ersten Anzeichen von starkem beruflichem oder familiärem Stress Gegenmassnahmen.
Eine Frage der Balance: Generell können Ihnen alle Massnahmen, mit denen Sie Stress verringern, dabei helfen, einem Burn-out-Syndrom vorzubeugen. Grundvoraussetzung ist, ein gesundes Gleichgewicht zwischen Belastungen in Beruf/Familie und Entspannung beziehungsweise Freizeit zu finden. Lassen Sie übermässige Belastungen, ob in Beruf oder Familie, nicht zum Dauerzustand werden. Diese sollten möglichst nur kurzfristig auftreten oder rasch verringert werden.
Regelmässige Arbeitstreffen: Im Berufsalltag helfen hier zum Beispiel regelmässige Arbeitstreffen, in denen Sie sich mit Kollegen über berufliche Dinge austauschen und diese dadurch besser in ihrer Bedeutsamkeit einordnen können. Bestehen berufliche Probleme, können Sie gemeinsam mit Kollegen Lösungsstrategien erarbeiten. Regelmässige Treffen bewirken auch, dass Sie sich nicht isoliert fühlen und nicht das Gefühl haben, alles allein schaffen zu müssen. Bei solchen Arbeitstreffen ist es wichtig, dass positives Feedback erteilt, beziehungsweise die Leistung des Einzelnen auch gewürdigt wird.
Wahrnehmung trainieren: Trainieren Sie Ihre Eigen- und Fremdwahrnehmung und finden Sie heraus, welche Umstände zu Ihrem Burn-out-Syndrom beitragen und ob Sie diese verändern können. Versuchen Sie im Job, Aufgaben auch an andere zu delegieren und nicht alles allein in der Hand zu haben. Bemühen Sie sich, weniger nach Perfektion zu streben.
«Nein sagen» lernen: Stellen Sie fest, was Ihre Bedürfnisse oder Ziele im Leben sind und wo sich Ihre Grenzen befinden. Suchen Sie in Ihrer Freizeit Ausgleich zum Stress und gehen Sie dort Interessen nach, die Sie entspannen und Ihnen Spass machen. Soziale Kontakte sollten Sie pflegen, allerdings ohne mit übergrossem Engagement darin aufzugehen. Lernen Sie, sowohl im Beruf als auch im Freundes- oder Familienkreis einmal «Nein» zu sagen, anstatt sich für andere aufzuopfern.
Gesunde Lebensweise: Achten Sie verstärkt auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung mit Ballaststoffen, viel frischem Obst und Gemüse. Bevorzugen Sie leicht verdauliche Speisen und verzichten Sie auf schweres Essen. Alkohol oder Kaffee sollten Sie möglichst nur in Massen geniessen und nicht als tägliches Werkzeug zur vermeintlichen Stressentlastung nutzen. Auch Zigaretten sollten Sie meiden. Bewegen Sie sich täglich wenigstens 30 Minuten und powern Sie sich dabei ruhig aus. Fahren Sie Rad, gehen Sie spazieren oder joggen Sie. Das baut Stress ab.
Entspannung suchen: Entspannungstechniken können Ihnen dabei helfen, dem Alltagsstress gelassener zu begegnen. Dazu gehören etwa autogenes Training oder Atemübungen. Aber auch Yoga, Meditation, Qigong oder Tai-Chi wirken Stress positiv entgegen. Achten Sie darauf, im Alltag auch regelmässig Ruhepausen einzulegen.
Je nach persönlicher Lage kann langfristig unter Umständen ein Arbeitsplatzwechsel helfen.
Weitere Infos zu Burn-out
Mehr über die Erschöpfungsdepression finden Sie in unserem medizinischen Nachschlagewerk: Burn-out-Syndrom
Dossier Burn-out
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Drei Burn-out-Betroffene erzählen, wie sich die Krankheit langsam in ihr Leben schlich, was sie mit ihnen machte, und wie beschwerlich der Weg zurück ins Leben war.
Christian Zubers (Name geändert) Wecker schellte werktags nach fünf Stunden Schlaf um 4.30 Uhr, an den Wochenenden etwas später. «Mein Leben kam mir vor, als sässe ich in einem Hochgeschwindigkeitszug, der durch einen gläsernen Tunnel fährt», sagt Zuber. Mitten in der Nacht aufstehen, stehend in der Küche Kaffee trinken, im Auto zur Arbeit am Handy hängen, im Büro um sieben Uhr die erste Telefonkonferenz mit Asien, die letzte um 20 Uhr mit New York. Freizeit? Fehlanzeige. Zuber: «Für mich wurden solche Arbeitstage zum Normalsten der Welt. Mein Leben kam mir vor, als sitze ich in einem Hochgeschwindigkeitszug, der durch einen gläsernen Tunnel fährt.»
Im global ausgerichteten Finanzkonzern war Zuber und sein Team dafür verantwortlich, die Auswirkungen von staatlichen Regulierungen auf die Unternehmung zu analysieren, eine hochkomplexe Denkarbeit. Irgendwo auf der Welt wird immer gearbeitet. Wenn die Menschen in Asien schlafen gehen, wachen sie in den USA auf. Der Informationsstrom reisst nie ab.
«Der Umgangston im Unternehmen war rüde», sagt Zuber. Jeder sei ein Einzelkämpfer gewesen. Auf dem Weg ins Sitzungszimmer habe es mitunter Rempeleien gegeben, weil einer der Kollegen den besten Platz am Konferenztisch ergattern wollte. «Konstruktive Diskussionen mit den Vorgesetzten gab es nicht, geführt wurde im angelsächsischen Stil mittels Kurznachrichten von Blackberry zu Blackberry.» Flappsige Sprüche, getippt im Gang oder Lift zwischen zwei Sitzungen. «Just do it!» habe die Order gelautet, oder «Take leadership!». Wer nicht spurte, erhielt schlechte Bewertungen oder wurde mit der Drohung auf Linie gebracht, dass ihm beispielsweise Projekte entzogen würden. «Ich gab in aller Eile zusammengeschusterte Arbeiten ab, hinter denen ich in keinesfalls stehen konnte. Das interessierte keinen. Grosse Teile der Finanzbranche funktionieren heute so», sagt Zuber. Das führe zwangsläufig zu Skandalen, niemand denke mehr nach.
«Ich lag im Bett, mein Körper weigerte sich, irgendetwas zu tun.»
Christian Zuber (Name geändert)
Eines morgens wachte der Finanzkadermann auf und fühlte sich wie tot. «Ich lag im Bett, mein Körper weigerte sich, irgendetwas zu tun.» Später dann schleppte er sich zum Arzt. Der habe ihn sofort auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Zubers Körper reagierte heftig, unter anderem mit Muskelzittern, Nackenstarre und Ausschlägen auf die unfreiwillige Auszeit. Die folgenden Wochen waren hart. «Man fällt und fällt», beschreibt er seine damalige Befindlichkeit.
In der Therapie sind happige Worte gefallen. Es mangle ihm an Selbstverantwortung und Eigenliebe. «Meine erste Reaktion war: Hey! Bin ich etwa ein Junkie, der verwahrlost unter der Brücke haust?» Doch allmählich habe er begonnen zu verstehen, was er sich und seiner Familie zugemutet habe. Entscheidend sei dabei das Ergebnis einer Therapieaufgabe in der Klinik gewesen. «Ich musste rückblickend ein detailliertes Tagebuch zu meiner üblichen Zeiteinteilung anfertigen». Eine Woche hat 168 Stunden. Rund 70 - 75 Stunden seien bei ihm für die Arbeit investiert worden. Neun Monate liegt diese Zeit jetzt zurück. Zuber hat Konsequenzen gezogen und plant einen beruflichen Richtungswechsel. Heute hat er wieder Augen für die «Blüemli und Chäferli» am Wegrand, wenn er spazieren geht.
Als Daniel Göring auf der Intensivstation erwacht, ist sein erster sein Gedanke: «Ok. Das Leben soll also weitergehen.» Stunden zuvor hatte er allein zu Hause einen Medikamentencocktail geschluckt, der ihn «auf die letzte Reise» schicken sollte. Das Rezept hatte er im Internet gefunden. Doch sein Magen rebellierte, Göring musste sich kurze Zeit nach Einnahme der Medikamente erbrechen. Als er am Handy nicht erreichbar ist, alarmiert seine Lebenspartnerin Görings Eltern. Sie fanden ihn am Morgen in seiner Wohnung und fuhren mit ihm sofort in die Notaufnahme.
Es war Dezember. Zwei Wochen vor seinem Suizidversuch war der frühere Kommunikationschef des Bundesamts für Zivilluftfahrt in einem Hotelzimmer in Andermatt aufgewacht. Das Dröhnen des Schneepflugs hatte ihn aus dem Schlaf geschreckt. Es hatte geschneit, er würde sein Auto freischaufeln müssen. Dann die anstrengende Fahrt auf der vereisten Strasse die Schöllenen hinab, Termine, Zwänge, Arbeiten bis in die Nacht hinein. Nichts ergab mehr Sinn. Da war nur noch dieser urmächtige Wunsch, zu verschwinden, sich im Nichts aufzulösen. Von diesem Tag an begann Göring systematisch in den Apotheken Medikamente zu kaufen. Immer nur kleine Mengen, niemand sollte Verdacht schöpfen.
«Emotional gibt es einen nicht mehr», beschreibt Göring seinen Zustand in der Zeit vor dem Suizidversuch. Man sei zu keinerlei Empathie mehr fähig. «Da ist nur diese ungeheure Leere, ein Vakuum.» Göring hatte eine Erschöpfungsdepression erlitten, ein «Burnout».
Warnsignale hatte es viele gegeben, doch Göring ignorierte sie alle. Etwa an jenem Dienstag, als ein Kollege ihm lachend auf die Schulter klopfte und fragte, wie denn die Ferien gewesen seien. «Welche Ferien?», fragte Göring zurück. Dabei war er erst vor drei Tagen aus einem dreiwöchigen Urlaub zurückgekehrt: «Die Ferien lagen in meiner Erinnerung weit zurück. Ich hatte mich kein bisschen erholt.»
In der Zeit nach seinem Suizidversuch begann Göring seine Erlebnisse schreibend zu verarbeiten. «Ich wollte die Details nicht vergessen. Möglichst alles zu notieren war eine gute Methode. Dann bekam das Schreiben eine Eigendynamik und am Schluss wurde ein Buch daraus.» Er realisierte, wie er jahrelang Raubbau an seinen Ressourcen getrieben hatte. Als Kommunikationschef des Bazl hatte es zu seinen wichtigsten Aufgaben gehört, die Reputation des Amtes wieder herzustellen, das nach dem Grounding der Swissair und dem wenige Wochen später erfolgten Absturz einer Crossair-Maschine bei Bassersdorf in die Kritik geraten war. «Das Amt wurde auf den Kopf gestellt», sagt Göring. Arbeitstage von 12 Stunden seien zur Gewohnheit geworden. «Man rutscht da rein, ohne es zu merken, und es wird zur Normalität.» Immer wieder gab es Ausnahmesituationen, die Göring aufs Äusserste fordern. Etwa der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull auf Island im März 2010, der in Europa den Flugverkehr für mehrere Tage lahmlegte. «Das saugt an den Batterien. Es ist, als sei man ständig im Angriffsmodus.»
Nach zehn Jahren beim Bazl fühlt sich Göring reif für einen Stellenwechsel, er wird Kommunikationschef eines internationalen Bau- und Hotelkonzerns. Als das Unternehmen in Schieflage gerät, fehlt ihm plötzlich die Routine, die ihm im Bazl ein reibungsloses Funktionieren gewährleistet hatte. Die berufliche Belastung steigt noch einmal, bis zu jenem Tag vor zwei Jahren im Dezember, als alles zu viel wird.
Heute ist Göring genesen. Er hat eine neue Stelle beim Eidgenössischen Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport angetreten und hält Referate zum Thema «Depression und Burnout». In seiner Therapie hat er gelernt, sich zu entspannen, den Moment zu geniessen. «Ein Sonnenaufgang beispielsweise, der Geschmack eines Kaffees, das sind Augenblicke, denen ich früher nicht die geringste Bedeutung zugemessen hatte», sagt Göring. Lange Wanderungen durch die Natur hätten ihm geholfen, wieder zu sich selber zu finden. Statt die auf den Wegweisern angegebene Zeit unbedingt unterschreiten zu wollen, wie es vor seinem Zusammenbruch sein natürlicher Impuls gewesen wäre, versuchte er jetzt, möglichst länger unterwegs zu sein. Auf dem Velo, seinem Lieblingssport, spielen heute die Stopp- und Pulsuhrwerte keine grosse Rolle mehr.
«Es kann jeden treffen, auch wenn er sich noch so stark und unverletzlich fühlt.»
Daniel Göring
«Je weiter der Zusammenbruch zurückliegt, umso kleiner wird die Rückfallgefahr. Aber ich bilde mir nicht ein, gänzlich davor gefeit zu sein», glaubt Göring. Falls er wider Erwarten wieder in den Sog geraten sollte, so wisse er heute, wo er sich Hilfe holen könne. Vor allem sei es wichtig, die Warnsignale nicht zu übersehen. «Ich war immer der festen Überzeugung, dass mir so etwas nie passieren werde. Aber das ist wohl die wichtigste Botschaft, die ich aus meinen Erlebnissen ziehe: Es kann jeden treffen, auch wenn er sich noch so stark und unverletzlich fühlt», sagt Göring.
Jahrelang hat der ehemalige Profi-Handball-Spieler Zoltan Cordas fünf verschiedene Handball-Mannschaften trainiert und dazu noch behinderten Kindern Sportunterricht erteilt. Das hiess: Pro Woche mehr als 700 Kilometer Autofahren plus stundenlanges Vorbereiten der Trainings, vor allem für seinen Hauptklub, den NLB-Verein TV Endingen. Als ob das nicht genug wäre, hatte der 52-Jährige jahrelang auch noch einen 50-Prozent-Job bei ABB, wo der Österreicher mit serbisch-ungarischen Wurzeln für den Osteuropa-Markt Kontakte knüpfte. «Die Ferien habe ich immer so gelegt, dass ich beispielsweise vor Ort in Slowenien ein paar Geschäftstermine abmachen konnte.» Freie Wochenenden gab es keine, Hobbies auch nicht, die Alarmsignale seines Körpers – etwa die bleierne Müdigkeit – ignorierte er, so gut es ging. «Ende 2013 habe ich gemerkt, dass mir alles über den Kopf wächst», so Cordas, doch Konsequenzen zog er daraus keine. Zwar habe ihm der Vereinsvorstand des TV Endingen empfohlen, kürzerzutreten, doch nach zwei oder drei ausgefallenen Trainings war alles wieder beim alten: «Wenn ich Jugendliche sehe, die etwas lernen wollen, kann ich einfach nicht Nein sagen.»
Bis zum 27. April. Sein Team kämpft vergeblich gegen Basel um den Aufstieg in die Nationalliga A, wenige Minuten vor Schluss bricht Zoltan Cordas am Spielfeldrand zusammen. Zwei geschockte Mannschaften und 2000 Zuschauer sind Zeugen seines Zusammenbruchs – für ihn bis heute ein traumatisches Erlebnis. Der Kreislauf-Kollaps war nur das akuteste Problem, auf den Spitalaufenthalt folgt eine dreimonatige intensive Burn-out-Therapie. «In eine Klinik wollte ich nicht, um nicht den ganzen Tag andere Betroffene um mich herum sehen zu müssen.» Stattdessen wählte er eine ambulante Psychotherapie, schottete sich aber mit Ausnahme von wenigen Vertrauenspersonen komplett ab. «Als erstes habe ich die Uhr weggeschmissen», auch das Handy blieb mehr als zwei Monate lang ausgeschaltet.
«In den letzten fünf Jahren meines Lebens habe ich mir keine Pause gegönnt, das war einfach zuviel», sagt Cordas heute. Von den Ärzten hat er gelernt, nicht alles gleich ernst zu nehmen. Wenn er jetzt im Stau steht, schweift sein Blick über die schöne Landschaft statt sich wie früher über die verlorene Zeit zu ärgern.
Ein anderer Mensch ist er nicht geworden, und auch dem Handball, das seit 35 Jahren für ihn nicht nur Beruf, sondern auch Leidenschaft ist, bleibt er treu. «Ich könnte meinen Job auch oberflächlicher machen, mit weniger Einsatz – aber das wäre nicht ich», sagt Cordas. Stattdessen reduziert er die Zahl der Mannschaften, die er trainiert, zudem stellt ihm der TV Endingen vorläufig einen Co-Trainier zur Seite, der ihn entlastet. «Ich fühle mich gesund und motiviert und bin gewillt, besser auf mich aufzupassen.» Sein Therapieprogramm ist aber noch lange nicht beendet.
Buchtipps
Guy Bodenmann, Christine Klingler Lüthi: «Stark gegen Stress»; Beobachter-Edition, 2013, 256 Seiten, 38 Franken (für Beobachter-Mitglieder CHF 29.90)
Ausserdem:
Daniel Göring: «Der Hund mit dem Frisbee»; Elfundzehn, 2014, 124 Seiten, CHF 26.90.