Vor wenigen Jahren änderte das Bundesgericht eine Praxis bei der Vergabe von IV-Renten: Bei mittelschweren Depressionen bekommen Betroffene nur dann eine Rente, wenn sie «therapieresistent» sind. Dieser Fall tritt in der Praxis jedoch kaum ein, wie Erich Seifritz, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, gegenüber SRF sagt: «Es gibt immer noch eine weitere Therapie – das kann 25 Jahre dauern. Das heisst, der Patient würde nie eine IV-Rente bekommen. Das ist nicht gerecht.» Zusammen mit Kollegen von den Deutschschweizer Universitätskliniken und Fachgesellschaften wehrt er sich gegen die Praxis. Es dürfe nicht sein, dass medizinische Fragen von Juristen beantwortet würden.

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Auch Rechtsanwalt Ueli Kieser findet, dass eindeutige Einstufungskriterien zwingend nötig sind.

Beobachter: Weshalb wurde die Praxis überhaupt geändert?

Ueli Kieser: Es ist schwierig zu beurteilen, welche Themen und Fragen das Bundesgericht aufgreift. Allenfalls hat es beobachtet, dass bei vielen Rentenstreitigkeiten Depressionen zu beurteilen waren.

Beobachter: Ist «Therapieresistenz» ein realistisches Beurteilungskriterium?

Kieser: Versicherten müssen Therapien auf sich nehmen, wenn diese helfen können. Dass eine Rente nur dann zugesprochen wird, wenn der «Schaden» nicht behoben werden kann, ist unbestritten. Doch wann das der Fall ist, wurde nie festgelegt. Schliesslich kann auf eine Therapie theoretisch immer noch eine weitere folgen.

Beobachter: Was wären bessere Kriterien?

Kieser: Das ist die zentrale Frage – es geht ja letztlich um ein medizinisches Thema. Das Bundesgericht hat sich in seinen Urteilen leider nie fassbar dazu geäussert. Es hat als Folge auf die Kritik der Psychiater angekündigt, die Thematik erneut zu prüfen.

Beobachter: Wie lange dauert das?

Kieser: Normalerweise gilt die Faustregel, dass eine Praxis erst nach etwa zehn Jahren wieder grundlegend überprüft wird. Mit der Ankündigung des Bundesgerichts ist das Resultat der Überprüfung aber vielleicht schon in etwa einem Jahr erkennbar.

Beobachter: Was ist mit denen, deren IV-Anträge aufgrund der jetzigen Praxis abgelehnt wurden?

Kieser: Wenn das Bundesgericht zugunsten der depressiven Versicherten entscheidet, bezieht sich das nicht auf bereits erledigte Fälle. Solche Rentenablehnungen müssen unmittelbar mit Beschwerde an das Sozialversicherungsgericht weitergezogen werden. Wer das nicht macht, kann sich später nicht auf die geänderte Praxis berufen. 

 

Ueli Kieser ist Rechtsanwalt und Vizedirektor am Institut für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis an der Universität St. Gallen.

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Quelle: Beobachter Edition