Kindern, die in Schweizer Ausschaffungszentren leben, geht es oft sehr schlecht – vor allem psychisch. Das zeigt die erste schweizweite Untersuchung im Auftrag der Eidgenössischen Migrationskommission EKM.

Die schlechte psychische Gesundheit dieser Kinder ist alarmierend.

Etwa 700 Kinder von abgewiesenen Asylsuchenden lebten 2020 mit Nothilfe, oft in hoch prekären Verhältnissen und auf engstem Raum. So sind häufig ganze Familien in einem einzigen Raum untergebracht. Die Hälfte der Kinder lebte bereits länger als ein Jahr auf diese Weise, manche bis zu vier Jahre.

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«Besonders besorgniserregend ist der schlechte psychische Zustand der Kinder», so die Studie. Oft sind sie bereits schon wegen der Fluchterlebnisse traumatisiert. Ihre Verfassung verschlechtert sich durch die Unterbringung noch zusätzlich.

Ausschaffungen mitten in der Nacht

Beispielsweise müssen sie Ausschaffungen durch die Polizei miterleben. Für die Kinder einschneidende Erlebnisse: Die Polizei komme in der Nacht in die Unterkunft, um Personen abzuholen, ohne «dass diese sich verabschieden konnten». Manchmal werden Kinder zu Zeuginnen von Suizidversuchen von Erwachsenen.​​

Soziale Isolation bei Kleinkindern ist ein grosses Risiko für die Entwicklung.

Dazu kommt, dass viele Kinder sozial isoliert sind. Vor allem bei Kindern unter vier Jahren kann das zu einem erheblichen Entwicklungsrisiko führen. Ein Grossteil der Unterkünfte liegt abgelegen von der Infrastruktur der lokalen Bevölkerung. So ist der Zugang zu Spielgruppen, Kitas und Freizeitmöglichkeiten schwierig. 

Oft können die Kinder nicht auf normale Spielplätze gehen. Und häufig fehlt in der Unterkunft das Tageslicht. Zwar hatten die meisten Unterkünfte, die in der Studie untersucht wurden, einen Aussenbereich. «Vereinzelt war der Aussenbereich gepflegt gehalten», heisst es im Bericht trocken. Auf einem der untersuchten Spielplätze wies das Klettergerüst hervorstehende Nägel auf. 

Schulunterricht vorhanden – Qualität je nach Kanton

Die Untersuchung zeigt auch, dass schulpflichtige Kinder «grundsätzlich beschult werden» – die Qualität des Unterrichts unterscheidet sich je nach Kanton sehr. Manchmal können die Kinder die normale Volksschule besuchen. Es wird aber auch von Mobbing ihnen gegenüber sowie von fehlender Sensibilisierung der Lehrkräfte berichtet. 

In manchen Unterkünften werden die Kinder und Jugendlichen intern unterrichtet – oft aber auch in altersmässig gemischten Klassen zwischen 5 und 16 Jahren. Jugendlichen fehlt nach der obligatorischen Schulzeit oft die Möglichkeit einer beruflichen Ausbildung oder weiterführenden Schule – ein Faktor, der eher zu Substanzenmissbrauch und Kriminalität führt.

Fast alle Kinder entwickelten Schlaf- und Angststörungen.

Die fehlende Perspektive und die jahrelange Unsicherheit, ob und wann eine Ausschaffung stattfindet, würden zu konstantem Stress bei den Kindern führen, so die Studie. Die Fachpersonen stellten fest, dass fast alle Kinder und Jugendlichen Schlaf- und Angststörungen sowie Depressionen entwickelten.

Zum Platzmangel und zur fehlenden Privatsphäre kamen viele Unterkunftswechsel und ein schlechter hygienischer Zustand der Räumlichkeiten hinzu. Manche Toiletten waren so schmutzig, dass die Kinder und Jugendlichen lieber einen Topf im eigenen Zimmer benutzten.

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Im Winter sind Zimmer oft so kalt, dass Kinder mit einer dicken Jacke schlafen.

In einigen Unterkünften liessen sich die Fenster nicht richtig schliessen, in anderen fehlten Möglichkeiten zum Lüften. Im Sommer sei es oft heiss und stickig, so die Studie. Und im Winter sei es oft sehr kalt, sodass «Kinder mit einer dicken Jacke schlafen». 

Zwar ist der Zugang zu ärztlichen Untersuchungen meist möglich, so die Studie. Doch weil die Nothilfe nur einige Franken pro Tag beträgt, fehlt oft das Geld für die Anreise mit dem öffentlichen Verkehr. Für den Besuch beim Kinderarzt werden zudem oft keine Übersetzerinnen gestellt. Viele der Kinder haben sehr schlechte Zähne, weil dies von der obligatorischen Krankenversicherung nicht übernommen wird.

Zustände verstossen gegen Uno-Kinderrechtskonvention

Die Zustände und die Lebensbedingungen dieser Kinder sind nicht mit der schweizerischen Bundesverfassung vereinbar. Sie entsprechen auch nicht internationalen Abkommen wie der Uno-Kinderrechtskonvention, hält ein Rechtsgutachten der Universität Neuenburg fest.

Die schweizweite Untersuchung der EKM, die vom Marie-Meierhofer-Institut für das Kind (MMI) durchgeführt wurde, ist die erste solche umfassende Bestandesaufnahme. Von den 26 Kantonen nahmen 23 an der Untersuchung teil, drei entschieden sich gegen eine Teilnahme.

EKM fordert Verbesserungen

Aufgrund der Untersuchungsergebnisse sieht die EKM einen deutlichen Handlungsbedarf der Nothilfepraxis. Sie fordert, dass Kinder nicht mehr in Kollektivunterkünften untergebracht werden – und weniger isoliert.

«Auch Kinder in der Nothilfe haben ein Recht auf ein Aufwachsen in Sicherheit.»

Bettina Looser, Geschäftsführerin EKM

Zudem sollen den Kindern eine geregelte Tagesstruktur sowie der Zugang zu Schule und Berufsbildung ermöglicht werden. Auch sollen die Gesundheitsversorgung gewährleistet und ärztliche Vorsorgeuntersuchungen gefördert werden.

Denn für die Geschäftsführerin der EKM, Bettina Looser, ist klar: «Auch Kinder in der Nothilfe haben ein Recht auf ihr physisches und psychisches Wohlergehen und auf ein Aufwachsen in Sicherheit.» Die Schweiz stehe so in der Verantwortung, ihnen den Schutz ihrer Rechte und ihres Wohles zu gewährleisten.

Was ist die Nothilfe?

Nothilfe erhalten Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, die aber vorerst dennoch nicht aus der Schweiz ausgewiesen werden können – etwa weil die Situation in ihrem Heimatland nicht stabil ist.

Die Nothilfe soll ein Minimum für den Erhalt des Lebens ermöglichen. Dies bedeutet in der Regel Essen, Unterkunft und medizinische Notfallbehandlung. Sie fällt je nach Kanton unterschiedlich aus: In einigen Kantonen wird sie als Sachleistung ausgerichtet. Wo dies nicht der Fall ist, beträgt die Nothilfe zwischen 8 und 10 Franken pro Tag.

Das System der Nothilfe wird seit Jahren kritisiert. Bereits 2020 schrieb die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht in einem Bericht von «vernachlässigtem Kindeswohl». Auch der Beobachter berichtete bereits, wie Kinder jahrelang unter prekären Bedingungen in der Schweiz leben, weil ihre Familien auf Nothilfe angewiesen sind.