Parlament will über Sammelklagen gar nicht erst diskutieren
Nach jahrelangem Verzögern beschliesst der Nationalrat, nicht auf den Vorschlag des Bundesrats zum kollektiven Rechtsschutz einzutreten. Und ignoriert die Stimmen von Fachleuten.
Veröffentlicht am 18. März 2025 - 12:42 Uhr
Am 17. März 2025 beerdigte der Nationalrat die Vorlage für eine Sammelklage (Symbolbild).
Manipulierte VW-Motoren, giftige Atemgeräte, gefährliche Medikamente – bei alldem gilt das Gleiche: Opfer von sogenannten Massenschäden gehen in der Schweiz in der Regel leer aus.
Sie können nicht gemeinsam vor Gericht ziehen, denn es gibt hier keine Sammelklage. Doch für Einzelne lohnt sich das finanzielle Risiko einer Klage im Verhältnis zum erlittenen Schaden meist nicht.
Die EU stärkt den Rechtsschutz
Im Ausland sieht es ganz anders aus, Geschädigte kommen zu ihrem Recht und zu Schadenersatz. Die EU hat den kollektiven Rechtsschutz in den letzten Jahren gestärkt.
Am 17. März hat der Nationalrat beschlossen, auf eine entsprechende Vorlage des Bundesrats nicht einzutreten, und ist damit der Empfehlung seiner vorberatenden Rechtskommission gefolgt. Diese hat während dreier Jahre immer wieder neue Berichte und Abklärungen bestellt, bevor sie sich überhaupt entscheiden konnte, ob sie über den Vorschlag des Bundesrats ernsthaft diskutieren will.
Sammelklage jahrelang aus allen Gesetzen gekippt
Das ist der vorläufige Tiefpunkt des Umgangs mit dem Thema: In der Schweiz hat man die Sammelklage nämlich in den letzten zehn Jahren wie eine heisse Kartoffel ständig aus verschiedenen geplanten Gesetzen fallen lassen. Und das, obwohl 2013 Bundesrat und Parlament noch fanden, man müsse die kollektive Rechtsdurchsetzung fördern.
Freuen tuts die Economiesuisse. Der Wirtschaftsdachverband hat sich jahrelang vehement gegen den kollektiven Rechtsschutz ins Zeug gelegt und begrüsst den Entscheid des Nationalrats.
Furcht vor amerikanischen Verhältnissen
«Die Einführung von Sammelklagen in unser Rechtssystem brächte gravierende Risiken mit sich, die allfällige Vorteile bei weitem übersteigen», sagt Erich Herzog, Mitglied der Geschäftsleitung des Verbands, zum Beobachter. «Die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen eindeutig, dass Sammelklagen oft zu Missbrauch, übermässigen Kosten und einer Klageindustrie führen.»
Rechtsprofessorin Tanja Domej von der Universität Zürich winkt ab. Das sei nicht realistisch, der Vorschlag des Bundesrats schaffe keine amerikanischen Verhältnisse. Die prozessualen Bedingungen seien dort völlig anders.
«Das Schreckgespenst einer Klageindustrie an die Wand zu malen, finde ich etwas problematisch.»
Tanja Domej, Rechtsprofessorin
Domej findet es etwas problematisch, das Schreckgespenst einer Klageindustrie an die Wand zu malen. «Ich denke, es wäre auch nicht verwerflich, wenn es mehr Anwaltskanzleien gäbe, die kompetent die Anliegen der Konsumenten vertreten könnten», sagt sie zum Beobachter. Die Gerichte in der Schweiz seien auch nicht besonders konsumentenfreundlich, in der Realität wären Klagen deshalb auch in Zukunft aufwendig und riskant, auch wenn man mit der Vorlage einiges vereinfachen würde.
Domej kennt den Gesetzesvorschlag gut. Sie war in der Expertenkommission des Bundesamts für Justiz. Wollte man mit dem Gesetz zu weit vorpreschen? «Nein, die Vorlage des Bundes ist zurückhaltend formuliert und wäre ein relativ bescheidener Fortschritt für die Rechtsdurchsetzung der Konsumenten», sagt die Expertin.
Er sei aber nötig. «Es ist in der Schweizer Rechtswissenschaft eine sehr breit vertretene Meinung, dass es ein Rechtsdurchsetzungsdefizit gibt und man ein entsprechendes Instrument schaffen sollte.»
«Das Parlament schützt diejenigen Firmen, die sich rechtswidrig verhalten.»
Sara Stalder, Stiftung für Konsumentenschutz
Enttäuscht vom Nationalrat zeigt man sich beim Konsumentenschutz. Geschäftsleiterin Sara Stalder sagt gegenüber dem Beobachter: «Das Parlament schützt diejenigen Firmen, die sich rechtswidrig verhalten.» Internationale Konzerne riskierten in der Schweiz keine Strafe, während Schweizer Unternehmen jederzeit im Ausland in eine Sammelklage geraten könnten. «Es wäre sicher sinnvoller für alle, in der Schweiz eine berechenbare Lösung zu schaffen.»
Der Konsumentenschutz wolle sich weiter für das Gesetz engagieren, denn die Rechtslücke müsse geschlossen werden.
Noch ist die Vorlage nicht vom Tisch. Als Nächstes geht sie in den Ständerat.
- Geschäft des Bundesrats im Parlament: 21.082 Zivilprozessordnung. Änderung
- Gespräche und Stellungnahmen: Stiftung für Konsumentenschutz, Wirtschaftsdachverband Economiesuisse, Rechtsprofessorin Tanja Domej von der Universität Zürich