Mit der Opferhilfe geht es in der Schweiz steil bergauf – zumindest was die Zahl der Beratungen anbelangt: 49’055 Mal suchten im vergangenen Jahr Opfer von Gewaltstraftaten oder ihre Angehörigen Unterstützung bei einer Opferhilfestelle. Diese sind verantwortlich für den Vollzug des Opferhilfegesetzes (OHG), das 1993 auf Initiative des Beobachters eingeführt wurde.   

Die neueste nationale Opferhilfestatistik weist damit einen absoluten Höchstwert seit der erstmaligen Erhebung der Zahlen im Jahr 2000 aus. Damals registrierte man erst 15’521 Beratungen. Im Langzeitvergleich entspricht dies einer Steigerung von 216 Prozent.

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Der Run dürfte anhalten

Sandra Müller, Leiterin der kantonalen Opferhilfestelle in Zürich, erklärt sich die kontinuierlich steigenden Zahlen bei den Opferberatungen damit, dass die Menschen heute sensibilisierter sind. Seit der Corona-Zeit sei das Thema auch medial stärker präsent als früher, sagt sie. «Die Bekanntheit der Opferhilfe ist eindeutig gestiegen.» Ebenfalls einen Einfluss habe, dass gemäss Kriminalstatistik die Gewaltstraftaten in den letzten Jahren wieder zunehmen. 

Bei den Beratungsleistungen bekommt die juristische Hilfe ein immer stärkeres Gewicht, etwa die Vermittlung der Gewaltopfer mit Anwältinnen und Anwälten. «Das ist ganz im Sinn einer wirksamen Opferhilfe», sagt Sandra Müller. 

Ihre Erfahrungen aus dem laufenden Jahr deuten darauf hin, dass der Run auf die Opferhilfestellen weiter anhalten dürfte. Dabei ist das Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft. «Insbesondere die Männer erreichen wir zu wenig», so Müller. Auch andere Anspruchsgruppen wie Jugendliche, Betagte oder Menschen mit Behinderungen nutzen die Leistungen der Opferhilfe unterdurchschnittlich.

Genugtuungszahlungen fast halbiert    

Während die Zahl der Beratungen steigt, sinken die finanziellen Ausgaben – ein erstaunlicher Kontrast. Die Leistungen für Genugtuungen, mit denen das erlittene seelische Leid eines Gewaltopfers wiedergutgemacht wird, haben sich nahezu halbiert. Wurden im Jahr 2000 pro genehmigten Fall durchschnittlich noch 12’300 Franken ausbezahlt, waren es 2023 noch 6600 Franken. Das ist ein Rückgang von 46 Prozent.

Zuzuschreiben ist das der Knausrigkeit der Kantone. Im Rahmen der OHG-Revison von 2009 wurden die Genugtuungsbeiträge gedeckelt: auf maximal 70’000 Franken für das Opfer und 35’000 Franken für Angehörige. Das führt dazu, dass seither Betroffene von schweren Gewalttaten nicht selten weniger Geld erhalten, als ihnen die Gerichte eigentlich zusprechen.

«Schlag ins Gesicht»

In der juristischen Praxis stösst die Begrenzung der Opferhilfe auf Unverständnis, weil damit das Prinzip des Schadensausgleichs unterlaufen wird. «Aus Opferperspektive ist es sehr unangenehm, wenn die gerichtlich zugesprochene Genugtuung nicht verfügbar gemacht werden kann. Nebst dem seelischen Leid kommt dann noch eine finanzielle Enttäuschung dazu», sagt etwa Patrick Bürgi, Rechtsanwalt aus Baden. 

Dass dies für Gewaltopfer als «Schlag ins Gesicht» empfunden werden kann, ist auch für Sandra Müller aus der Optik der Opferhilfe nachvollziehbar. «Aber es war ein politischer Entscheid, hier zu sparen.»

Ganz lässt sie den Vorwurf, der Staat spare auf dem Buckel von Gewaltopfern, jedoch nicht stehen. Müller verweist auf eine Verlagerung der finanziellen Leistungen: Dem Rückgang bei den Entschädigungen und Genugtuungen stünden steigende Beiträge für direkte Finanzierungen gegenüber. Damit werden Kosten für Massnahmen gedeckt, die aufgrund der Straftat entstanden sind. Als Soforthilfe übernehmen die Opferhilfestellen etwa anwaltliche Erstberatungen oder einen Aufenthalt im Frauenhaus, als längerfristige Hilfe beispielsweise Therapiekosten. Das Ausmass dieser Leistungen erfasst die nationale Statistik jedoch nicht.

Ungenutztes Potenzial bei Entschädigungen 

Seit dem Einschnitt durch die Revision des Opferhilfegesetzes zeigen die Zahlen bei den Genugtuungs- und Entschädigungszahlungen jährliche Schwankungen auf deutlich tieferem Niveau. Zuletzt, 2022 und 2023, wies die Kurve wieder etwas nach oben. 

Es gibt noch ungenutztes Potenzial im Bereich der Entschädigungsleistungen, welche die finanziellen Schäden einer Straftat ausgleichen. In Gerichtsverfahren werde dieser Posten oft gar nicht erst geltend gemacht, stellt Sandra Müller von der Zürcher Opferhilfestelle fest. Grund: Viele Anwälte würden den administrativen Aufwand scheuen. Müller ärgert das. «Da gäbe es für die Opfer noch Möglichkeiten, um finanziell besser davonzukommen», sagt sie.


Infos zu Opferhilfe und Beratungsstellen: Opferhilfe-schweiz.ch

Weitere Kennzahlen  

  • Der Anteil Frauen, die eine Beratung bei einer Opferhilfestelle in Anspruch nahmen, lag im Beobachtungszeitraum 2000 bis 2023 bei 73 Prozent.
  • In durchschnittlich 90 Prozent der Fälle betrafen die Beratungen einen Mann als mutmasslichen Täter. Davon kannten sich Täter und Opfer in 73 Prozent der Fälle schon vor der Tat.
  • 2023 ging es bei 46 Prozent der Beratungen um die Deliktart Körperverletzung oder Tätlichkeiten, 33 Prozent betrafen Erpressung, Drohung und Nötigung, 31 Prozent waren Sexualstraftaten; dabei kann eine Beratung in Zusammenhang mit mehreren Deliktarten stehen.
  • Von 2000 bis 2023 führten die Opferhilfestellen insgesamt 780’000 Beratungen durch und genehmigten Genugtuungen und Entschädigungen im Umfang von 187 Millionen Franken.