Die Mär vom bösen Ei
Zu viel Blutfett macht krank. Darin sind sich die meisten Mediziner einig. Über die Gründe dafür und die bestmögliche Behandlung wird aber heftig gestritten.
aktualisiert am 25. April 2019 - 14:32 Uhr
Das Hühnerei. Einst galt es wegen seiner hochwertigen Proteine als ideales Nahrungsmittel. Doch plötzlich, in den achtziger Jahren, kam es in Verruf: zu viel Fett, zu viel Cholesterin. Wer Eier esse, könne sich in der Intensivstation der Herzklinik gleich ein Bett reservieren. Eierkonsum führe zu Ablagerungen an den Blutgefässwänden und Arterienverkalkung.
Vor sechs Jahren gaben erste Studien Entwarnung : Die Angst vor Cholesterin in der Nahrung sei unbegründet. Es gebe sogar Hinweise darauf, dass ein Ei pro Tag das Risiko für einen Schlaganfall reduziere. Und jetzt der Rückzug vom Rückzug: Ein Team von US-Ärzten facht die Diskussion neu an und will Eier wieder vom Speiseplan streichen. Wem soll man da noch glauben?
Unbestritten ist, dass das Blutfett Cholesterin wichtige Aufgaben übernimmt – es ist lebensnotwendig. Dabei unterscheiden die Mediziner zwischen mindestens zwei Cholesterinarten, dem HDL und dem LDL. Schädlich soll nur LDL sein, während HDL nützlich ist (siehe Infografik unten).
Für Jürg H. Beer, Chefarzt am Kantonsspital Baden und Präsident der Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose (Agla), ist die Sache klar: «Der Zusammenhang zwischen zu hohen LDL-Werten und Arterienverkalkung ist gut dokumentiert.» Angesichts der Fülle an Beweismaterial frage er sich, warum dazu selbst in Fachkreisen noch Unklarheiten bestünden.
Eine Erklärung könne sein, dass in der Vergangenheit dem Cholesteringehalt in der Ernährung eine zu grosse Bedeutung beigemessen wurde: «Ab und zu ein Frühstücksei löst noch keine atherosklerotische Erkrankung aus. Die neueste Studie zeigt aber die Dosisabhängigkeit der Cholesterinzufuhr, auch beim Ei.» Relevant sei auch, wie der Körper das Nahrungscholesterin verarbeite.
Bei der Beurteilung gehe es aber nie nur um das Cholesterin, sondern stets um die Berücksichtigung mehrerer Risiken bei einem Patienten, sagt Beer. Die Ärzte verwenden dazu einen Risikorechner: Die Variablen sind neben den Cholesterinwerten das Alter (Ältere sind gefährdeter), das Geschlecht (Männer haben ein höheres Risiko), das Gewicht und der Blutdruck sowie persönliche Parameter (Rauchen, Vorerkrankungen wie Diabetes). Berechnet wird das Risiko, in den kommenden zehn Jahren an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall zu sterben.
Beträgt das Risiko 5 bis 10 Prozent und hat man einen LDL-Wert von mehr als 2,6 mmol/l (Millimol pro Liter), werden Cholesterinsenker empfohlen, ebenso bei einem Risiko von mehr als 10 Prozent und LDL-Werten von über 1,8 mmol/l. Es gibt aber auch Länder mit Richtlinien, die dies schon ab einem Risiko von 7,5 Prozent empfehlen, während die Schweizer Hausärztevereinigung den Schwellenwert bei 20 Prozent ansetzt. Auch beim Einsatz von Medikamenten, den sogenannten Statinen, bestehen also alles andere als klare Verhältnisse.
Dass Statine bei Patienten, die bereits einen Herzinfarkt hatten , das Risiko für einen weiteren Infarkt senken, ist unbestritten. Das gelte jedoch nicht für alle Personen, die noch nie einen Infarkt oder Schlaganfall hatten, meinen Statinkritiker.
Dem hält Jürg H. Beer entgegen, dass Arterienverkalkung ein schleichender Prozess ohne Symptome sei und «deshalb die Verschreibung cholesterinsenkender Mittel je nach Risiko-Rating auch bei Personen, die noch keine Herz-Kreislauf-Erkrankung erlitten haben, sinnvoll ist». Zumal Menschen mit familiärer Hypercholesterinämie, also genetisch bedingt stark erhöhten LDL-Cholesterinwerten, oft zu spät erfasst und behandelt würden.
Doch die Statinkritiker beharren darauf, dass Cholesterinsenker zu leichtfertig verschrieben würden. Tatsächlich nahmen in den letzten acht Jahren die Verkäufe von Statinen um 20 Prozent zu. Das waren letztes Jahr 2,25 Millionen Packungen unterschiedlicher Grösse, was den Herstellern einen Umsatz von rund 108 Millionen Franken beschert hat.
Angesichts der «Verschreibungswut» bei Statinen wollte SP-Nationalrat Pierre-Alain Fridez bereits vor sechs Jahren vom Bundesrat wissen, ob Statine wirklich cholesterinsenkend sind, und verlangte ein wissenschaftlich unabhängiges Gutachten dazu. Die Stellungnahme des Bundesrats fiel für Fridez ernüchternd aus: Nutzen und Sicherheit von Statinen seien bereits sehr gut untersucht. Die Regierung erachte eine weitere wissenschaftliche Evaluation als nicht notwendig.
Inzwischen ist man beim Bund aber vorsichtiger geworden. Das Bundesamt für Gesundheit BAG hat soeben eine Arbeit ausgeschrieben, um Nutzen, Schaden und Kosten von Statinen wissenschaftlich untersuchen zu lassen.
Auch Forscher der Universität Zürich geben Pierre-Alain Fridez in einer aktuellen Studie teilweise recht: Statine «lohnen» sich erst ab einem höheren Risikogrenzwert als dem oft angegebenen, denn die gängigen Richtlinien vernachlässigen die Gefahr von Nebenwirkungen – darunter Muskelschmerzen, grauer Star, Leberschäden oder Diabetes.
«Die Schwellenwerte wurden von den Experten ohne systematische Untersuchungen festgelegt.»
Milo Puhan, Professor für Epidemologie und Public Health, Universität Zürich
Laut Professor Milo Puhan vom Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich wurden «die Schwellenwerte von den Experten ohne systematische Untersuchungen festgelegt». Er kommt in seinen Berechnungen zu einer differenzierteren, nach Alter und Geschlecht abgestuften Einschätzung. Vor allem für Senioren werde der Nutzen von Statinen überschätzt: Bei einem Alter von 70 bis 75 Jahren steigt die Risikoschwelle, bei der der Nutzen die Nebenwirkungen überwiege, auf 22 Prozent. «Aufgrund des neu errechneten Schwellenwerts brauchten nur etwa halb so viele Menschen, die noch nie einen Herzinfarkt hatten, ein Statin», schliesst Milo Puhan.
Er empfiehlt allen Betroffenen, ihr persönliches Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie mögliche Nebenwirkungen von Statinen – je nach Studie klagen zwischen 7 und 29 Prozent der Patienten über Muskelbeschwerden – gemeinsam mit ihrem Hausarzt sorgfältig abzuwägen, bevor sie sich für oder gegen eine vorbeugende Einnahme von Statinen entscheiden.
«Die Vorteile jeder Therapie müssen immer auch gegen die möglichen Nebenwirkungen abgewogen werden», sagt Jürg H. Beer. Aber das Risiko, an einem Herzinfarkt oder Hirnschlag zu erkranken oder zu sterben, sollte nicht eins zu eins etwa mit Muskelschmerzen gewichtet werden.
Bei niedrigem bis mittlerem Risiko helfe auch eine konsequente Umstellung des Lebensstils, um das Risiko zu senken: «Mediterrane Ernährung mit einfach ungesättigten Fettsäuren, wie sie in Olivenöl enthalten sind, vermindert das Erkrankungsrisiko um 15 Prozent. Ist die Nahrung reich an mehrfach ungesättigten Fettsäuren, bedeutet dies ein sogar um 25 Prozent reduziertes Risiko.» Lifestyle genüge aber bei hohem und sehr hohem Risiko leider nicht, hier sei der Einsatz von Medikamenten gefragt.
Demnach sind Eier, die zwar viel Cholesterin, aber auch ungesättigte Fettsäuren enthalten, zunächst nicht schlecht. Gebraten in Butter mit Speck führen allerdings gesättigte Fettsäuren dazu, dass mehr Cholesterinanteile aus dem Ei ins Blut übergehen. Das Ei ist also – was das Cholesterin angeht – weder gut noch schlecht: Es kommt auf die Zubereitungsart an.
- Ein Rauchstopp beispielsweise kann die Wahrscheinlichkeit eines Herz-Kreislauf-Leidens um 50 Prozent reduzieren.
- Dreimal pro Woche 20 Minuten Sport sollen das «schlechte» LDL-Cholesterin bereits um bis zu 10 Prozent senken können, während das «gute» HDL sogar ansteigt.
- Eine ausgewogenere Ernährung mit viel ungesättigten Fettsäuren tut ihr Übriges: wenig tierisches Fett, dafür reichlich Oliven-, Lein- und Rapsöl, viel rohes Gemüse und Obst, Sojaprodukte, Haferflocken und Nüsse.
Wozu braucht der Körper Cholesterin?
Für die Produktion von Zellwänden, Nervengewebe und Hormonen wird Cholesterin benötigt. Den grössten Teil davon produziert der Körper selbst, vorwiegend in der Leber. Zusätzliches Cholesterin nehmen wir über die Nahrung auf. Transportiert wird es im Blut mittels eines «Taxis» aus Fett und Eiweiss, den sogenannten Lipoproteinen. Es gibt allerdings verschiedene solcher «Taxis». Wichtig ist das richtige Verhältnis von «guten» und «bösen» Lipoproteinen.
Berechnen Sie Ihr persönliches Herz-Kreislauf-Erkrankungsrisiko auf dem Agla-Risikorechner: