Ein zweites Leben mit neuem Herz
Ruedi Riebli lebt seit zehn Jahren mit einem Spenderherz. Er erlebte Dramatisches. Heute geniesst er das Leben umso mehr.
Veröffentlicht am 26. April 2019 - 11:39 Uhr,
aktualisiert am 25. April 2019 - 14:26 Uhr
Ruedi Riebli war nie ein Doktortyp. Bei Bobos biss er auf die Zähne. Stieg ins Auto, fuhr zur Arbeit. Ignorierte seine Leiden, bis sie wieder verschwunden waren. Das änderte sich an einem Montag im Oktober 2008. Es war der sechste, das weiss Riebli noch genau. Da blieb er im Bett, weil ihn Durchfall und Erbrechen plagten. «Wenn du nicht endlich zum Doktor gehst, reiss ich dich aus dem Nest», drohte seine Frau Nelly nach einigen Tagen. Gerade rechtzeitig. Auf der Autobahn wurde Riebli schummrig. «Jetzt musst du Gas geben», warnte er auf dem Beifahrersitz.
Beim Arzt wurde der damals 56-Jährige gründlich untersucht. So viel Aufwand wegen ein bisschen Durchfall! «Schiissdräck, jetzt geben Sie mir einfach eine Spritze!» Er musste doch zurück in den Aussendienst. Aber der Arzt sah das anders. Kurz darauf lag Riebli im Krankenwagen. «Du musst nicht mitkommen, ich nehme am Abend den Zug nach Hause», versicherte er seiner Frau. Auf dem Weg ins Zürcher Triemlispital verlor Riebli das Bewusstsein. Zurück zu Hause war er erst Monate später.
Die vermeintliche Magen-Darm-Grippe entpuppte sich als Herzinfarkt. Es war schon der zweite, den Riebli nicht bemerkt hatte. «Bei einem stummen Herzinfarkt bleiben typische Warnsignale wie Brustschmerzen oder Atemnot aus; der Patient verspürt aber Bauchschmerzen oder klagt über Schulterschmerzen», erklärt Thierry Carrel, Direktor der Klinik für Herz- und Gefässchirurgie am Inselspital Bern. «In der Folge kommt es zu einer Durchblutungsstörung, und das Herzmuskelgewebe kann absterben.» Rieblis Herz erbrachte nach den beiden Infarkten noch eine Leistung von 10 Prozent. Er brauchte ein neues, und zwar dringend.
Ruedi Rieblis Platz auf der Warteliste von Swisstransplant, der Schweizerischen Stiftung für Organspende und Transplantation, errechnete ein Computer. Massgeblich für die Reihenfolge sind Dringlichkeit, medizinischer Nutzen einer Transplantation und bisherige Wartezeit. Im Durchschnitt warten Patienten elf Monate auf ein Spenderherz, bei Riebli waren es sechseinhalb.
Da sein lädiertes Herz dieser Wartezeit aber nicht gewachsen war, versorgten ihn die Chirurgen mit dem Kunstherz Excor. Bei diesem stellen Kanülen eine Verbindung zwischen Herz, Gefässen und einer Blutpumpe ausserhalb des Körpers her. Durch einen Schlauch wird regelmässig Luft in eine Kammer des Kunstherzens gepumpt und wieder ausgesaugt, in der anderen Kammer zirkuliert durch die entstandenen Druckunterschiede das Blut. Heute werden Systeme wie das Excor, damals nur eine Übergangslösung, kaum mehr verwendet. «Neue Systeme werden direkt in den Körper implantiert und sind für den Patienten komfortabler. Meist funktionieren sie mehrere Jahre einwandfrei», erklärt Carrel.
Die Operation war erfolgreich, doch Rieblis Körper hatte zu viel mitgemacht: Der Zuger fiel ins Koma. Neben seinem Bett wartete Nelly, Tag für Tag. Als er die verklebten Augen wieder öffnete, war er verwundert. Da stand seine Frau, die er kaum wiedererkannte. «Jetzt hast du deine blöde Diät aber übertrieben. Du bist so dünn wie ein Knochengerüst!» Doch wie hätte sie essen sollen? Sechs Wochen lag ihr Mann im Koma, dreimal ist er währenddessen fast gestorben. Nach Hause durfte er mit seinem Kunstherz nicht, dafür war er zu schwach.
Viele Transplantationspatienten leiden auch psychisch. Besonders wenn sie plötzlich erkrankt sind und sich nicht auf die Situation vorbereiten konnten. Da Schlafstörungen, Depressionen und Verunsicherungen dann besonders oft vorkommen, haben die meisten Spitäler, die Herztransplantationen durchführen, mittlerweile einen Dienst für Psychokardiologie. Dieser beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen Herzerkrankungen und psychischen Faktoren. «Patienten brauchen in jedem Fall eine professionelle psychologische Betreuung. Einige haben viel Redebedarf, andere kriechen ins Schneckenhaus», sagt Thierry Carrel. Besonders Schuldgefühle kommen häufig vor, schliesslich warten Patienten quasi auf den Tod eines anderen Menschen. «Solche Gedanken sind natürlich. Doch Spender sterben nicht für die Empfänger», so Carrel.
Riebli fiel nur einmal in ein Loch: «Als meine Schwester starb, durfte ich nicht einmal an die Beerdigung. Da habe ich nur noch geweint», erinnert er sich. Aber aufgegeben hat er nicht. «Ich brauchte keine Psychologin», sagt Riebli. «Mit ihr habe ich nur über den Hund geredet, den ich mit dem neuen Herz abholen wollte. Ein Labrador, schoggibraun.» Dass er nach der Transplantation wegen der Infektionsgefahr keine Haustiere halten durfte, sagte ihm niemand.
Zweimal war ein neues Herz in Griffweite, beide Male verliess Riebli den Operationssaal ohne das rettende Organ. Beim ersten Mal fand man überraschenderweise Tumormetastasen am fremden Herz, beim zweiten Mal wurde es nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt. Im März 2009 ging Rieblis Wettlauf gegen die Zeit in die letzte Runde. Eines Morgens piepte der Alarm am Excor. Sein Oberkörper war voller Eiter, der Kreislauf wegen des Infekts sehr instabil. Riebli fiel ins Koma, schon wieder. Er erinnert sich an Träume, in denen er das Licht sah. Das, von dem alle erzählen. Das Spenderherz kam in letzter Sekunde. «Er ist zu schwach für eine Operation, so stirbt er doch!», protestierte seine Frau. «Das tut er auch, wenn wir nicht operieren», erwiderte der Arzt. Die Transplantation dauerte doppelt so lange wie üblich. Aber Riebli erwachte mit einem neuen Herz.
Von wem er es bekommen hat, weiss er nicht. In der Schweiz bleiben Spender anonym. «Anderenfalls müssten sie sich damit auseinandersetzen, woher das Organ kommt und wie der Spender gestorben ist. Ob das sinnvoll ist, ist schwierig zu beurteilen», sagt Carrel. Das könne die Gefahr von Schuldgefühlen vergrössern und allenfalls problematische Fragen aufwerfen: Wie lebt es sich mit dem Herz eines Straftäters, der von der Polizei erschossen wurde? Wie mit dem einer alleinerziehenden Mutter, die vier Kinder zurücklässt? Ausserdem könne es dadurch vermehrt zu sogenannten Organfantasien kommen: Patienten haben das Gefühl, ein Teil der Persönlichkeit des Spenders übertrage sich auf sie. «Naturwissenschaftlich gibt es allerdings keine Erklärung für ein solches Phänomen», versichert Carrel. Wohl aber ändere sich die Persönlichkeit durch die Erfahrungen, die ein Patient gemacht hat. Riebli ist sensibler geworden, weint schnell und oft. Vor allem wenn er glücklich ist.
Sein Kampf war mit dem neuen Herz noch nicht zu Ende. Der Zuger musste alltägliche Dinge neu lernen. Schreiben, obwohl die Hände zitterten. Sitzen, trotz unerträglicher Schmerzen. Laufen, zunächst zwei, drei Schritte. «Manchmal habe ich die Krankenschwestern dafür gehasst, dass sie mich so quälten», erinnert er sich. Mit Handygames trainierte er seine Reaktion, bei der Medikamentenschulung sein Gedächtnis. 35 Pillen nahm er damals, 17 sind es noch heute.
Die meisten davon sind Immunsuppressiva. Sie verhindern die Abstossung des fremden Organs, unterdrücken aber auch das eigene Abwehrsystem . Das hat zur Folge, dass unter Umständen entartete Zellen nicht erkannt werden und sich Tumore entwickeln können – in den ersten fünf Jahren nach der Transplantation erkrankt jeder Zehnte an Krebs. Auch Riebli wurden schon mehrere bösartige Hauttumore entfernt. Im ersten Jahr nach der Operation musste er immer wieder ins Spital, hatte unzählige Infektionen, war ständig krank.
Hustet jemand in seiner Nähe, ist Riebli alarmiert, bei 38 Grad Körpertemperatur muss er sofort seinen Arzt anrufen. Keime verstecken sich im Fell der Nachbarskatze, in der Blumenerde in seinem Schrebergarten oder im Schwimmbad, in dem er so gern trainiert. Alkohol soll er möglichst vermeiden, auch essen darf er nicht mehr alles – Lebensmittel können die Wirkung der Medikamente ungünstig beeinflussen.
Es ist nicht vorhersagbar, wie lange der neue Muskel pumpt. Manche mit Spenderherz leben wenige Jahre, andere Jahrzehnte. Einfluss haben der Zustand des Organs bei der Entnahme, das Alter des Spenders, dessen Todesursache, die Immunreaktion und das Alter des Empfängers, die eingenommenen Medikamente und viele weitere Faktoren. «Wenn das erste Jahr überstanden ist, hat der Patient sicher eine grosse Hürde geschafft. Je mehr Zeit vergeht, desto wahrscheinlicher ist eine gute Prognose», sagt Carrel. Sicherheit gebe es aber keine: Auch nach Jahren könne es zu unerwarteten Problemen oder Abstossungsreaktionen kommen. «Manche Patienten haben trotz der Herztransplantation eine schlechte Lebensqualität, das lässt sich nicht schönreden. Vielleicht hätten sie anders entschieden, wenn sie es im Voraus gewusst hätten», so der Herzchirurg. Viele seien aber den Umständen entsprechend zufrieden, sogar glücklich.
Im Aussendienst durfte Riebli nicht mehr arbeiten. Lange still sitzen konnte er aber auch nicht. 2010 gründete er das Projekt Spenderherz, das Patienten unterstützt, die auf ein Herz warten. Im Universitätsspital Zürich erhalten sie Rieblis Visitenkarte. Er kennt die Antworten auf Fragen, welche die Ärzte nur theoretisch beantworten können. Wie fühlt sich ein neues Herz an? Wie lebt es sich mit Schuldgefühlen?
Riebli geht es gut, das möchte er den Wartenden zeigen. Sogar Sport macht er wieder: Vier Jahre nach der Transplantation war er als Schwimmer und Läufer zum ersten Mal an den World Transplant Games in Südafrika, ein Jahr später gewann er bei den Winterspielen in Frankreich Bronze im Riesenslalom und im Super-G. Zweimal pro Woche geht der 66-Jährige ins Fitnessstudio, ab und zu schwimmen. Im Sommer ist er mit seiner Frau unterwegs. Macht Kreuzfahrten, Velotouren und schläft im Zelt.
Wie lange sein zweites Herz mitmacht, ist ungewiss. Irgendwie geht es dann schon weiter, da ist Riebli zuversichtlich. Schliesslich hat er auch sein erstes Herz überlebt.