Unbewusst ins Schädel-Hirn-Trauma
Eine Gehirnerschütterung bleibt oft unerkannt. Dabei kann diese ohne ärztliche Abklärung schwere Folgen haben.
Veröffentlicht am 29. März 2021 - 18:04 Uhr
Im Zeichentrickfilm bringen sie uns zum Lachen: die Figuren, die gegen Wände laufen oder einen Schlag auf den Kopf bekommen. Im Alltag ist die Sache ernster. Denn eine Gehirnerschütterung, medizinisch Schädel-Hirn-Trauma, kann in manchen Fällen schwerwiegende gesundheitliche und psychische Folgen haben.
Was viele nicht wissen: «Das Trauma kann nicht nur durch einen direkten Schlag oder Stoss gegen den Kopf ausgelöst werden», sagt die Neurologin Nina Feddermann, Leiterin des Swiss Concussion Center in Zürich. «Auch etwa ein starker Schlag gegen die Schulter kann ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma auslösen – wegen der physikalischen Kraftübertragung.» Es reicht aus, wenn Beschleunigung und Bremsung unglücklich zusammenkommen.
Manche stürzen die Treppe runter und bleiben unversehrt – andere stolpern und erleiden eine Hirnerschütterung. Die Forschung kann nicht eindeutig sagen, wie stark Beschleunigung und Bremsung sein müssen, um das Trauma auszulösen. Zu viele Faktoren kommen zusammen, etwa die Geschwindigkeit und die Muskelspannung.
Der Begriff «Gehirnerschütterung» verdeutlicht, was dabei mit dem Gehirn geschieht: Es bewegt sich innerhalb des Schädels (siehe Illustration weiter unten). Dadurch wird es kürzer oder länger in seiner Funktion beeinträchtigt. Betroffene merken das unmittelbar – auch wegen Gedächtnislücken. «Eine unserer Patientinnen kann nicht mehr rekonstruieren, wie sie nach ihrem Velounfall nach Hause kam », sagt Feddermann. Bei einem leichten Schädel-Hirn-Trauma ist der Aussetzer gewöhnlich kürzer als eine Stunde.
Benommenheit und Konzentrationsprobleme sind ebenfalls mögliche Symptome. Zudem können unwillkürliche Augenbewegungen und Sehstörungen auftreten, etwa Doppelbilder. «Bunte Balken im Sehfeld dürfen ebenfalls nicht ignoriert werden», sagt Feddermann. «Sie deuten auf eine Netzhautablösung hin.» Auch Kopfschmerzen und Übelkeit können auftreten. Wer eine oder mehrere der Beschwerden bei sich beobachtet, sollte rasch in die Notfallaufnahme oder zur Hausärztin.
Aber häufig ist man sich nicht einmal bewusst, dass man eine Gehirnerschütterung erlitten hat. Man ignoriert Symptome und Schmerzen, verzichtet auf eine ärztliche Untersuchung. Deshalb gibt es eine hohe Dunkelziffer: Ärzte können die Fälle nicht dokumentieren – und Betroffene bekommen nicht die Hilfe, die sie eigentlich benötigen.
Dabei betonen Fachleute wie Feddermann, wie wichtig eine schnelle Diagnose ist. «Gerade bei Kindern und Jugendlichen – leichte Schädel-Hirn-Traumata können negative Langzeitfolgen für die kognitive Entwicklung haben, wenn sie nicht behandelt werden.»
«Es ist nie zu spät, Symptome einer Gehirnerschütterung und ihre Folgen abzuklären.»
Nina Feddermann, Neurologin, Leiterin Swiss Concussion Center
Aber auch für Erwachsene ist eine rasche ärztliche Abklärung wichtig. «So kann man problematischen Kompensationsmechanismen rechtzeitig entgegenwirken», sagt Feddermann. Denn manche Betroffene wollen sich selbst helfen, tun sich damit aber keinen Gefallen. Sie interpretieren Symptome der Gehirnerschütterung zum Beispiel als ein Problem der Wirbelsäule und benutzen eine Halskrause. Das ist hier nicht nötig und kann im schlimmsten Fall die Halsmuskulatur schwächen und zu tatsächlichen Problemen des Bewegungsapparats führen.
Nur medizinisches Fachpersonal kann abklären, ob die Beschwerden von einer Vorerkrankung rühren, die sich in denselben Symptomen äussert. Es prüft ebenfalls, ob der Stoss oder Aufprall andere Verletzungen verursacht hat, zum Beispiel an der Halswirbelsäule oder am Gleichgewichtsorgan im Innenohr.
Schädel-Hirn-Trauma
«Bei einem leichten Schädel-Hirn-Trauma raten wir zu einer Ruhepause von 24 bis 48 Stunden», sagt Feddermann. «Anschliessend empfehlen wir eine stufenweise Rückkehr zur körperlichen und kognitiven Aktivität, die wir entsprechend den individuellen Bedürfnissen therapeutisch begleiten.» Die Erholungszeit nach einer Gehirnerschütterung dauert zwei bis vier Wochen.
Es könnten sich aber langfristige Probleme entwickeln, darunter das sogenannte postkonzussive Syndrom: Symptome wie Kopfschmerzen oder Gedächtnisschwäche halten länger als drei Monate an und werden chronisch. Sogar Depressionen werden als mögliche Spätfolge vermutet.
Nina Feddermann betreut derzeit eine Patientin, deren leichte Gehirnerschütterung 20 Jahre zurückliegt. Die Neurologin betont: «Es ist nie zu spät, Symptome einer Gehirnerschütterung und ihre Folgen abzuklären und Therapieoptionen zu diskutieren.»