«Tabletten helfen bei stressbedingten Schmerzen nicht!»
Schmerzen, die über Monate oder sogar Jahre anhalten, sind in einem Drittel aller Fälle durch Stress verursacht. Warum Betroffenen dann weder eine Operation noch Medikamente weiterhelfen.
Veröffentlicht am 29. Oktober 2021 - 12:28 Uhr
Beobachter: Bei Rückenschmerzen denken viele erst einmal an eine kaputte Bandscheibe oder einen eingeklemmten Nerv. Aber auch Stress kann zu Rückenschmerzen führen, richtig?
Ulrich Egle: Absolut. Stress kann über Muskelverspannung zu Schmerzen führen. Das Problem ist, dass man das nicht sieht in der Bildgebung. Dafür findet man etwa bei jedem zweiten über 40-Jährigen eine Bandscheiben-Auffälligkeit, wenn man ein Computer- oder Kernspintomogramm macht. Hat der oder die Betreffende nun Rückenschmerzen, erklärt man diese oft mit der Auffälligkeit, die man auf den Bildern sieht, ohne andere Ursachen in Betracht zu ziehen. Oftmals wird dann unnötig operiert.
Wie kann man unnötige Rückenoperationen
verhindern?
Bevor auf Basis der Bildgebung operiert wird, müsste man einen Neurologen hinzuziehen, der prüft, ob die auffällige Bandscheibe tatsächlich ein Problem darstellt. Die Bandscheibe selbst kann nämlich nicht wehtun. Weh tut es nur, wenn sie auf den Nerv drückt, und in diesem Fall findet der Neurologe Auffälligkeiten, zum Beispiel eine veränderte Nervenleitgeschwindigkeit. Findet er nichts, ist klar, dass der Schmerz nicht von der Bandscheibe kommt. Dann kann eine Operation das Problem nicht lösen.
Wie erkennt man denn stressbedingten Schmerz?
Man darf sich nicht allein auf die Bildgebung stützen. Man muss auch die Lebenssituation der Betroffenen miteinbeziehen und beispielsweise herausfinden, ob sie familiär oder beruflich während längerer Zeit unter Druck stehen und ob sie aufgrund ihrer Lebensgeschichte anfälliger sind für Stress. Es ist ein Puzzle, das man nur im ausführlichen Gespräch klären kann. Oftmals fehlt schlichtweg das Bewusstsein dafür, dass auch Stress die Ursache von Rückenschmerzen sein könnte. Das zeigte sich kürzlich wieder an einer Fortbildung, bei der ich über das Thema sprach. Unter den 120 Teilnehmenden waren ganz viele Hausärztinnen und Hausärzte, und die wollten immer nur wissen: Welche Tabletten kann ich verschreiben? Und dies, obschon ich im Vortrag dreimal gesagt hatte: Tabletten helfen bei stressbedingten chronischen Rückenschmerzen nicht!
Also zeigen Schmerzmittel gar keine Wirkung gegen stressbedingte Rückenschmerzen, oder lösen sie einfach das Problem nicht?
Ich sage nicht, dass Schmerzmittel in keinem Fall eine Wirkung zeigen. Das Ganze ist sehr kompliziert. Die üblichen Schmerzmittel wie Aspirin oder Paracetamol beeinflussen die Leitung eines Schmerzreizes zum Gehirn, nicht jedoch die Schmerzwahrnehmung im Gehirn selbst – und es ist dort, wo der stressbedingte Schmerz entsteht. Opiate wirken zwar im Gehirn selbst und sind anfangs wirksam, aber wenn man sie über längere Zeit nimmt, können sie die Schmerzen sogar noch verstärken. Dann wirkt bei allen Schmerzmitteln immer auch der sogenannte Placebo-Effekt
sehr stark mit. Die meisten von uns haben im Leben schon Schmerzmittel eingenommen und die Erfahrung gemacht, dass sie gegen akuten Schmerz gut wirken. Sie haben daher eine positive Erwartungshaltung. Dadurch werden körpereigene Stoffe aktiviert, die im Gehirn wie Opiate wirken, und der Schmerz verschwindet oftmals tatsächlich. Aber auf Dauer verliert der Placebo-Effekt seine Wirkung.
Schmerzmittel sollte man also nur bei akuten Schmerzen nehmen?
Schmerzmittel sind für akute Schmerzen entwickelt worden. Bei Schmerzen, die länger als drei Monate andauern, liegt ihre Wirkung bei gerade mal 8 bis 12 Prozent Schmerzreduktion. Die Wirksamkeit ist also ziemlich klein. Gleichzeitig nehmen wir bei regelmässiger Einnahme unglaublich viele Nebenwirkungen in Kauf. Paracetamol beispielsweise kann in höheren Dosierungen mit der Zeit zu Leberversagen führen. Daher sollte man Schmerzmittel nicht länger als drei Monate einnehmen.
«Schmerz, psychischer und sozialer Stress – das wird alles in den gleichen Hirnbereichen verarbeitet.»
Ulrich Egle, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Sie sagten vorhin, stressbedingter Schmerz entstehe im Gehirn. Wie das?
Einerseits beeinflusst das Gehirn direkt, wie und wie stark wir Schmerzen wahrnehmen. Da spielen auch Erfahrungen mit Schmerzen mit hinein, die wir im Verlauf des Lebens gemacht haben. Andererseits wird der Bereich unseres Gehirns, der Schmerzen aus dem Körper wahrnimmt, stark von dem Bereich des Gehirns beeinflusst, der Stress verarbeitet. Schmerz, psychischer und sozialer Stress – das wird alles in den gleichen Hirnbereichen verarbeitet. Wenn ich nun beispielsweise beruflichen oder familiären Stress habe, werden die gleichen Gehirnbereiche aktiviert, wie wenn ein Schmerzstressor ins Gehirn kommt. Und wenn diese Gehirnareale schon beschäftigt sind mit der Verarbeitung von familiärem oder beruflichem Stress, dann läuft das Fass buchstäblich über, das Schmerzempfinden steigt massiv an.
Gibt es nebst den angesprochenen Gehirnarealen noch andere schmerzauslösende Faktoren?
Ja, auch bestimmte Botenstoffe können im Gehirn Schmerz verursachen. Ein Beispiel dafür sind die Gliederschmerzen am ganzen Körper, die viele Menschen bei einer Grippe haben: Diese werden nicht über die Nervenbahnen aus dem Körper ins Gehirn geleitet, sondern sie entstehen direkt im Gehirn, wenn sogenannte Zytokine hineingelangen. Das sind Botenstoffe unseres Immunsystems, die eine Entzündungsreaktion auslösen und so Viren und andere unerwünschte Fremdkörper abbauen, um sie aus dem Körper zu schaffen. Normalerweise gelangen sie nicht ins Gehirn wegen der Blut-Hirnschranke. Doch die wird durchlässig, sobald wir Stress haben. Gelangen diese Entzündungsbotenstoffe ins Gehirn, erleben wir sie dort als Schmerz. Zudem verstärken sie die Schmerzreize, die über Nervenbahnen ins Gehirn gelangen. Das alles bleibt aussen vor, wenn man sich auf Bildgebung beschränkt.
Spielt auch Schlafmangel
eine Rolle bei stressbedingten Schmerzen?
Schlafen wir schlecht, werden wir schmerzempfindlicher. Es ist ein Teufelskreis: Stress führt dazu, dass wir schlecht schlafen. Das erhöht unser Schmerzempfinden. Das wiederum kann bestehenden Stress verstärken.
«Die Entzündungsprozesse im Gehirn können wir bisher nicht gut durch Medikamente beeinflussen.»
Ulrich Egle, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
Wie viele Menschen leiden unter stressbedingten Schmerzen?
Etwa ein Drittel aller chronischen Schmerzen
ist rein stressbedingt. Bei einem weiteren Drittel ist zwar eine Gewebe- oder Nervenschädigung die Hauptursache, aber psychische und soziale Stressoren verstärken die Schmerzen. Nur bei etwa einem Drittel aller chronischen Schmerzen ist eine Gewebe- oder Nervenschädigung die alleinige Ursache.
Wie behandelt man stressbedingte Schmerzen?
Die genannten Entzündungsprozesse
im Gehirn können wir bisher nicht gut durch Medikamente beeinflussen. Am besten hilft hier eine gut dosierte Sporttherapie. Der Puls sollte dabei nicht über 120 gehen. Weiter helfen Entspannungsverfahren, Stress abzubauen. Und nicht zuletzt ist oftmals eine spezielle Form der Psychotherapie nötig, um die persönlichen Stressursachen anzugehen. Dabei geht es darum, Muster im Umgang mit sich selbst und mit anderen Menschen zu erkennen, mit denen man sich selbst Stress macht.
Prof. Dr. med. Ulrich Egle ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Senior Consultant am Sanatorium Kilchberg. Er hat dort 2018 ein Therapieprogramm zur Behandlung von stressbedingten Schmerzen eingeführt.
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3 Kommentare
DIE GENESUNG DURCH MEDIKAMENTE IST MEISTENS NUR VORÜBERGEHEND--DIE URSACHE DER KRANKHEITS -SYMPTOME SIND MEISTENS VERERBT !
Ja das mit "vererbt" ist oft eine Ausrede für Unwissenheit oder Unwille, sich mit unbequemeren Aspekten auseinanderzusetzen – vgl. Argumente dazu von Dr. Maté
Damit bin ich überhaupt nicht einverstanden. Hatte letztes eine Rücken OP (hochgradige Spinalkanalstenose). Die OP ( 3 1/2 Std.) verlief gut. Neues Problem Ischialgie. Ich laufe sehr viel, 2x pro Woche Pilates sowie Tenns Gerät. Morphium hilft gegen den Schmerz. Der Neurologe meinte das Psachopharmazeutika helfen würden den Schmerz weniger wahr zu nehmen. Bei der kürzlichen Unterarm Fraktur musste zudem eine Metallplate angeschraubt werden. Bei Druckverhältnissen steigt der Schmerz.