Von Sorgen erdrückt
Sorgen sind normal. Aber manchen Menschen machen sie das Leben schwer. Wie man Angststörungen eindämmt.
Veröffentlicht am 25. Mai 2021 - 16:33 Uhr
Die Sorgen kamen immer früh am Morgen über Elisa Will. In Gedanken spielte sie durch, wie ihr Mann auf dem Weg zur Arbeit mit dem Auto einen schweren Unfall haben würde. Dann jagten ihre Gedanken weiter zur geplanten Urlaubsreise, zur Autofahrt durch die Po-Ebene. Da war doch fast immer Nebel, wie oft kam es deshalb zu Unfällen? Sie stellte sich vor, wie ihre Kinder blutüberströmt im Auto lagen. Konnte man diesen Urlaub überhaupt verantworten? Und überhaupt die Kinder, die konnten doch schon heute morgen auf dem Schulweg verunglücken. Als Elisa Will um 6.30 Uhr aufstand, hatte sie sich schon anderthalb Stunden lang gesorgt.
«Solche Sorgenketten sind typisch für die generalisierte Angststörung
», sagt Christoph Flückiger, Professor am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Er hat Elisa Will, die im richtigen Leben anders heisst, in seiner Spezialpraxis therapiert.
Fünf bis zehn Prozent aller Menschen sind während ihres Lebens betroffen. «Die Häufigkeit der Störung nimmt mit dem Alter zu, vor allem bei den Frauen.» Oft wird die Störung erst spät erkannt. Zum Beispiel, weil sie mit einer Depression verwechselt wird. «Aber vereinfacht gesagt, sind Patienten mit generalisierter Angststörung in ständiger Unruhe, während Depressive eher niedergeschlagen sind.»
Oft erschwert auch eine Kombination verschiedener Störungen die Diagnose. «Zu 85 Prozent tritt die generalisierte Angststörung in Verbindung mit anderen psychischen Erkrankungen, wie sozialer Angst, Depressionen und spezifischen Phobien auf», sagt Eni Becker, Leiterin der Abteilung Klinische Psychologie an der Uni Nimwegen (NL). «Diese sind leichter zu diagnostizieren und verdecken oft die generalisierte Angststörung.»
Ein stilles Leiden
Bei Elisa Will dauerte es sechs Jahre, bis sie ihre Diagnose erhielt – eine durchaus übliche Zeitspanne. Das liegt auch daran, dass Patientinnen lange keine Hilfe suchen und für ihr Umfeld nicht auffällig sind. «Es ist ein stilles Leiden, viele Patienten sind nach aussen hin voll funktionsfähig in Arbeit und Familie», sagt Flückiger.
So war es auch bei Elisa Will. Sie leitete den Verkauf in einer Bäckerei, war Vorgesetzte für die Verkäuferinnen und unterstand dem Besitzer. Wurde weniger verkauft, machte sie sich Vorwürfe und bangte um ihren Job. Verwehrte sie einer Mitarbeiterin einen Urlaubstag, fürchtete sie, zu streng gewesen zu sein. Dabei waren eigentlich alle zufrieden mit ihr. «Generalisierte Angststörung entwickeln oft Menschen mit einem ausgeprägten Leistungsbewusstsein», sagt Flückiger. «Vom Charakter her sind sie seit der Kindheit eher ängstlich.»
Wie viele Sorgen sind noch normal und wann werden sie pathologisch? «Sorgen haben eine wichtige Funktion», sagt Flückiger. «Vor einer Skitour etwa kann es lebenswichtig sein, sich vor einer Lawine zu fürchten.» Auch für die gesamte Gesellschaft seien Sorgen wichtig. «Ich bin froh, dass es Menschen gibt, die sich sorgen und die Sorge tragen.»
Bedenklich wird es jedoch, wenn die Sorgen über Stunden anhalten. Eine Studie, an der Eni Becker mitgewirkt hat zeigte, dass sich Patienten mit einer generalisierten Angststörung mehr als sechs Stunden am Tag intensiv Sorgen machen. Nicht erkrankte Menschen kommen nur auf eine Stunde.
«Alarmierend ist, wenn sich Sorgen gar nicht mehr stoppen lassen», sagt Flückiger. «Die Diagnose generalisierte Angststörung stellen wir, wenn ein Mensch unter den Sorgen wirklich leidet.»
«Wenn man gründlich über die Sorgen spricht, reduziert sich die Anspannung oft schon um 50 Prozent.»
Christoph Flückiger, Professor am Psychologischen Institut der Universität Zürich
Die Störung verschlimmert sich oft durch den Umgang der Betroffenen mit den Ängsten. Elisa Will war ständig angespannt und nervös, sie schlief schlecht, versuchte, sich dazu zu zwingen, nicht an die Sorgen zu denken. Doch das gelang ihr nicht, im Gegenteil wurden sie dadurch noch präsenter. «Wer versucht, etwas bewusst zu verdrängen, richtet meistens noch mehr Aufmerksamkeit auf das Problem und kann es so erst recht nicht vergessen», sagt Eni Becker.
Manche fürchten, dass ihren Kindern, ihrem Partner oder Eltern etwas zustossen könne – und suchen Gewissheit, indem sie ständig anrufen. Auch Elisa Will fragte ständig bei ihrem Mann nach, ob alles in Ordnung sei. Doch das verschaffte ihr nur kurzfristig Linderung – denn im nächsten Moment hätte ihm schon wieder etwas passiert sein können. Durch die vielen Stunden, die Elisa Will mit Ängsten beschäftigt war, bekam sie das Gefühl, Job und Familie nicht mehr bewältigen zu können. «Spätestens, wenn man sich auch noch Sorgen macht, weil man sich zu viel sorgt, sollte man Hilfe suchen», sagt Eni Becker.
Lernen, Ängste auszuhalten
Bei Elisa Will waren es auch Probleme in der Familie, die sie dazu brachten, eine Therapie anzufangen. Ihrem 13-jährigen Sohn verbot sie das Hockey-Spiel, zu gefährlich. Spontane Ausflüge waren nicht mehr möglich, denn sie vorab ausgiebig die Gefahrenlage für die Autofahrt analysieren wollte. Das Leben verlor für ihre Familie jegliche Leichtigkeit.
Schliesslich kam sie mit ihrem Mann überein, eine Psychotherapie
anzufangen. «Die kognitive Verhaltenstherapie hat eine erstaunlich gute Wirksamkeit», sagt Flückiger. «In 80 Prozent der Fälle erreichen wir schnell Fortschritte.»
In der Therapie geht es darum, Ängste zu Ende zu denken und auszuhalten. «Wenn man gründlich über die Sorgen spricht, reduziert sich die Anspannung oft schon um 50 Prozent», sagt Flückiger. Verdeutlicht man sich dann noch, wie unwahrscheinlich ein Autounfall etwa ist, hilft das ebenfalls.»
Auch Entspannungsverfahren wie autogenes Training und progressive Muskelentspannung sowie Achtsamkeitstraining haben ihren Platz in der Therapie. «Patienten sollten zusehen, dass sie einen gut strukturierten Tagesablauf haben und nicht zu lange zuhause mir Sorgen beschäftigt sind», sagt Flückiger.
Für Elisa Will war die Verhaltenstherapie ein Erfolg, der nächsten Fahrt durch die Po-Ebene sieht sie gelassen entgegen. Sorgen hat sie immer noch. Doch sie bestimmen ihren Tag nicht mehr.
Der Bundesrat will den Zugang zur Psychotherapie vereinfachen. Therapeuten können ab dem 1. Juli 2022 ihre Leistungen zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung abrechnen. Voraussetzung ist, dass diese entsprechend qualifiziert sind und eine Berufsausübungsbewilligung des Kantons haben.
Heute können Psychotherapeuten ihre Leistungen nur dann abrechnen, wenn sie mit einem Arzt oder Psychiater zusammenarbeiten. Neu wird eine Anordnung der Psychotherapie durch eine Ärztin ausreichen. Nach 15 Sitzungen muss mit der Krankenkasse Rücksprache genommen werden, um die Therapie zu verlängern.
Mit dem Entscheid des Bundesrates wird eine jahrelange Forderung der Schweizer Psychologieverbände erfüllt. Man geht davon aus, dass die obligatorische Krankenkasse künftig Psychotherapien im Umfang von rund 100 Millionen übernimmt, die heute privat bezahlt werden.
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