Lernen, sich gegen Gewalt zu wehren
In Kursen übt man, Grenzüberschreitungen zu erkennen – und sich verbal und notfalls körperlich zu verteidigen.
Veröffentlicht am 21. Januar 2020 - 10:50 Uhr
Die Demütigung wird Leon Heusser* nicht vergessen. An einem Samstagabend wurde er von drei Männern an einer Haltestelle belästigt . «Sie haben mich immer wieder geschubst, an meinem Kragen gezerrt und sich über mich lustig gemacht», sagt er. «Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt.» Die Täter seien nach einigen Minuten im Tram verschwunden. Aber das Gefühl blieb. «Erst seit ich einen Selbstverteidigungskurs gemacht habe, ist es langsam besser geworden», sagt Leon Heusser.
Selbstverteidigungskurse vermitteln, wie man sich verbal und körperlich besser behaupten und schützen kann. Dadurch können sie das Selbstvertrauen und ein sicheres Auftreten fördern. «Die Selbstverteidigung beruht auf dem Grundrecht des Menschen auf Unversehrtheit und Würde», sagt Tamara Hauenstein, Trainerin beim Zürcher Verein Impact SelbstSicherheit, der Kurse für Erwachsene anbietet.
«Unsere Teilnehmerinnen lernen, ihre Grenzen nicht nur zu erkennen, sondern auch zu setzen.»
Angela Aerne, Verein Wen-Do Zürich
Selbstverteidigungskurse eignen sich für alle, unabhängig von Fitness und körperlichen Einschränkungen. Es geht darum, dass man sich entsprechend seinen Fähigkeiten behaupten und verteidigen lernt. Auch für Menschen, die wie Leon Heusser bereits Übergriffe erlebt haben, können Selbstverteidigungskurse hilfreich sein. Allerdings werden in den Kursen Angriffssituationen nachgestellt, was Erinnerungen an traumatische Erlebnisse wachrufen kann. Deshalb sollte man Kursleiterinnen und -leiter gleich am Anfang über diese Erlebnisse informieren. So können sie bestimmte Kurseinheiten entsprechend anpassen.
«Wenn sich eine Person in Therapie befindet, fragen wir nach, ob die begleitende Fachperson die Teilnahme am Kurs befürwortet», sagt Tamara Hauenstein. Auch während des Kurses sollten Menschen mit traumatischen Erfahrungen in sich hineinhören. Falls problematische Begleiterscheinungen wie Flashbacks auftreten, kann es hilfreich sein, psychologische Hilfe zu suchen.
Ein Selbstverteidigungskurs umfasst auch Prävention und Selbstbehauptung . «Denn wer sich vor Übergriffen schützen will, muss erst einmal lernen, Grenzverletzungen frühzeitig zu erkennen», sagt Simona Materni, stellvertretende Leiterin der Schweizerischen Kriminalprävention. Das gilt etwa für Frauen und Mädchen bei sexuellen Übergriffen. «Unsere Teilnehmerinnen lernen, ihre Grenzen nicht nur zu erkennen, sondern auch zu setzen», sagt Angela Aerne vom Verein Wen-Do Zürich.
Wen-Do richtet sich an Frauen und hat seinen Ursprung in der kanadischen Frauenbewegung der siebziger Jahre. In Zürich gibt es den Verein seit 31 Jahren. Teilnehmerinnen lernen unter anderem durch Rollenspiele, ihr Bedürfnis nach Abstand zu erkennen und zu schützen. Verschiedene Techniken helfen ihnen. «Dazu gehören auch Strategien des Nein-Sagens durch den bewussten Einsatz von Stimme und Körpersprache», erklärt Wen-Do-Trainerin Eveline Müller. Das kann eine wichtige Rolle spielen. Denn gerade sexuell motivierte Täter loten Grenzen häufig erst einmal aus. «Meist sind bereits mehrere Grenzverletzungen ungeahndet erfolgt, bis eine Frau von einem Fremden angegangen wird», erklärt Simona Materni von der Kriminalprävention.
«Unsere Teilnehmerinnen gehen mit einem Gefühl der Sicherheit nach Hause.»
Angela Aerne, Verein Wen-Do Zürich
Auch körperliche Abwehrtechniken gehören zu jedem Selbstverteidigungskurs. «Wir stellen Angriffssituationen realitätsnah dar – mit einem speziell geschulten Impact-Trainer in Schutzausrüstung», erklärt Tamara Hauenstein. «Eine Trainerin begleitet jede Situation im Coaching, und eine Assistentin rundet die Betreuung ab.»
Techniken wie Wen-Do oder auch Seito Boei gehen auf feministische Ansätze zurück. Andere sind eine Kombination aus Kampfkünsten, Zenbuddhismus, Psychologie, Pädagogik und Sportwissenschaft, etwa Ki-Do. Wieder andere stammen von asiatischen Kampfkünsten ab, wie Goshindo.
Aber Selbstverteidigung ist weder Kampfkunst noch -sport, nicht schöne Technik oder das Erringen von Graden. «Es geht vielmehr um die Verteidigung unter Stresseinfluss und um ihre Wirksamkeit», sagt Tamara Hauenstein.
Tatsächlich legen mehrere Studien aus den letzten 25 Jahren nahe: Selbstverteidigung ist effektiv. Mit ihr lässt sich Gewalt wirksamer vermeiden als ohne entsprechende Ausbildung. Wer bereits einen Kurs absolviert hat, kann ihn auffrischen – manche Anbieter empfehlen, das alle zwei bis drei Jahre zu tun. Auch wenn es keinen hundertprozentigen Schutz vor Übergriffen gibt, ist ein Kurs nützlich – weil man sich dank den erlernten Fähigkeiten gefestigter und ruhiger fühlt. «Unsere Teilnehmerinnen gehen mit einem Gefühl der Sicherheit nach Hause», so Angela Aerne von Wen-Do.
*Name geändert
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