Man sitzt im Zug, wartet auf die Abfahrt. Ein Blick aus dem Fenster, und schon setzt sich der Zug in Bewegung. Doch es ist gar nicht der eigene Zug, sondern jener auf dem Nebengleis, der losgefahren ist. Das Gehirn bringt zwei widersprüchliche Informationen durcheinander: Die Augen melden «wir fahren», und der Gleichgewichtssinn sagt «wir stehen».

Von derartigen Phänomenen sind all unsere Sinne betroffen. Hält man beispielsweise eine grosse Muschel ans Ohr, glaubt man, eine Meeresbrandung zu hören. Dabei nimmt man bloss das Rauschen des eigenen Blutes wahr. Oder wenn einem beim Essen ein winziges Stück Zahn abbricht, ertastet die Zunge ein riesiges Loch – als ob der halbe Zahn weggebrochen wäre.

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«Bei all diesen Fehlwahrnehmungen interpretieren wir die Reize, die wir mit unseren Sinnen aufnehmen, schlicht falsch», erklärt Georg Felser. Er ist Professor für Wirtschaftspsychologie der Hochschule Harz in Wernigerode (D) und Spezialist für Werbe- und Konsumpsychologie. Es komme deshalb immer wieder zu trügerischen Farb- und Formeindrücken, zu Fehlschlüssen bei Grössenverhältnissen oder verwirrenden räumlichen Zuordnungen. So stimmt die Aussage «Schwarz macht schlank» nur deshalb, weil Schwarz Licht weniger reflektiert als helle Farben.

Oft sind Sinnestäuschungen eine Folge von Übermüdung oder Überlastung. «Wenn wir alles wahrnehmen könnten, was um uns geschieht Hirnforscher Lutz Jäncke «Wir können kein Multitasking» , wären wir überfordert», meint Georg Felser. Also macht das Gehirn «Abkürzungen». Bei einer Fülle von Informationen nehmen wir automatisch eine Selektion vor und deuten oder interpretieren die Realität. «Unser Wahrnehmungsapparat ist nicht dafür gemacht, die Welt so zu spiegeln, wie sie tatsächlich ist.»

Hirn ergänzt fehlende Infos

Dass die Welt durch unsere Wahrnehmung interpretiert wird, belegen sogenannte Kippbilder, auf denen man verschiedene Formen wahrnehmen kann, etwa ein Kaninchen und eine Ente im gleichen Bild. Was auf unserer Netzhaut ankommt, ist immer dasselbe. Es ist unser Wahrnehmungsapparat, der versucht, daraus etwas Sinnvolles zu machen. Unser Hirn greift dabei auf unsere Erfahrungen zurück und ergänzt Unvollständiges: Im Kreis angeordnete Striche vervollständigt es zu einem Kreis. In ungeordneten Flecken versuchen wir Figuren zu erkennen.

Bereits der griechische Philosoph Aristoteles hat sich mit der Wahrnehmung beschäftigt und hat beschrieben, wie einen der Tastsinn täuschen kann: Tippt man sich mit überkreuzten Fingern an die Nasenspitze, fühlt man zwei Nasen – dies, weil bei den überkreuzten Fingern die einander abgewandten Seiten plötzlich nebeneinander liegen.

Die Haut lässt sich auch, was Temperaturen anbelangt, gern täuschen. Taucht man für eine Minute eine Hand in kaltes, die andere in heisses Wasser und dann beide Hände in lauwarmes Wasser, fühlt sich dieses für die eine Hand heiss und für die andere kalt an: Die «kalte» Hand wird im Empfinden erwärmt, die «warme» abgekühlt.

Optische Illusion: verschiedenfarbige Kreise sehen so aus, als würden sie sich bewegen

Optische Täuschung: Das Muster aus hellen und dunklen Bereichen reizt die Bewegungssensoren im Gehirn.

Quelle: Alamy Stock Photo

Geradezu prädestiniert für Fehlwahrnehmungen ist das Gehör. Denn Lebewesen «besitzen» keine Geräusche. Sie lösen vielmehr Luftschwingungen aus, die in Ohr und Gehirn zu Tönen werden.

Ein Beispiel für Hörtäuschung ist der sogenannte McGurk-Effekt: Zeigt man Menschen ein Video mit einer Person, die ursprünglich die Laute «ga ga» ausspricht, und ersetzt diese auf der Tonspur durch die Laute «ba ba», geben Versuchspersonen an, die Laute «da da» zu hören. Im Gehirn wird also die Toninformation «ba ba» durch die visuelle Information der Lippenbewegung («ga ga») verändert.

Auch der Geruchssinn Faszination Nase «Es wird unterschätzt, wie wichtig der Geruchssinn ist» kann uns irreführen. Manche Menschen nehmen üble Gerüche wahr, die gar nicht existieren, sogenannte Phantomgerüche. Oder aber Düfte lösen Rückschlüsse aus, die nicht stimmen müssen: Den Geruch eines frisch gebohnerten Parkettbodens etwa assoziiert das Hirn – aufgrund zahlreicher Erfahrungen – zwingend mit Sauberkeit, auch wenn dem nicht so ist.

Farbe kann Süsse intensivieren

Unsere Sinne beeinflussen sich auch gegenseitig. So spielt der Geruch beim Essen eine zentrale Rolle. Und die Optik ist für das, was wir schmecken, zentral: Erdbeerkuchen, auf einem weissen Teller serviert, wird als süsser empfunden, als wenn er auf einem schwarzen Teller liegt, weil die roten Beeren auf dem Weiss stärker auffallen.

«Selbst die Umgebung beeinflusst die Wahrnehmung. Wenn man in den Ferien einen wunderbaren Wein trinkt und davon ein paar Flaschen nach Hause nimmt, stellt man meist fest, dass der Wein nicht mehr gleich gut schmeckt», sagt Georg Felser.

Bei der Sinneswahrnehmung dürfe man ausserdem das Vorwissen nicht unterschätzen: In einem Versuch versetzten Wissenschaftler Bier mit Essig. Die eine Hälfte der Probanden wusste dies vor der Verkostung, die andere erfuhr es erst danach, aber noch vor der Bewertung. Nur die Gruppe, die von Anfang an informiert war, bewertete das Bier negativ. Daraus folgert Felser: «Wissen verändert das Erleben selbst.»

«Wir haben die Tendenz, mit einer rosa Brille durch die Welt zu gehen, das ist gesund.»

Georg Felser, Professor für Wirtschaftspsychologie

Die auf Vorwissen basierende Erwartungshaltung setzt man im Sinnes-Marketing denn auch manipulativ ein:

  • etwa bei der Farbgebung von Margarine, die als weicher und besser streichbar empfunden wird, wenn sie dunkler ist.
  • Bei Wurstwaren sorgen Farbstabilisatoren dafür, dass sie ihre rosarote Farbe behalten, was Frische ausstrahlt.
  • Nach Frühling duftende Putzmittel wirken frisch, sauber und hygienisch.
  • Sogar die Lautstärke von Staubsaugern wird nicht dem Zufall überlassen: Wenn sie zu leise sind, vermitteln sie das Gefühl, nicht richtig zu saugen.

Für Georg Felser sind Sinnestäuschungen jedoch grundsätzlich nichts Negatives: «Wir haben die Tendenz, mit einer rosa Brille durch die Welt zu gehen, das ist gesund.» Wenn wir die Welt immer genau so erkennen würden, wie sie wirklich ist, würden wir wohl in eine Depression verfallen.

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