Hilfe annehmen? Bloss nicht – dachte ich lange
Nicht jede Person ist gut darin, Hilfe anzunehmen. Auch Caroline Fux haderte während ihres Psychologiestudiums damit. Heute gibt sie Tipps, wie man den Dreh rausbekommt und sich auf Hilfe einlassen kann.
Veröffentlicht am 19. April 2023 - 17:20 Uhr
Sind Sie gut darin, Hilfe anzunehmen? Wenn nicht: willkommen im Club! Respektive: Gratulation zur Mitgliedschaft im Verein, bei dem ich lange mustergültiges Mitglied war.
Widerstand gegen Unterstützung fing bei mir früh an. Mein Lieblingswort als Kind war: «Selber!» Mit Ausrufezeichen, versteht sich. Egal, worum es ging, was es zu meistern gab, was es zu tun gab – Klein Caroline deklarierte gefragt oder ungefragt: «Selber!» Und legte los. Solo.
Die Wende kam im Psychologiestudium, als ich in eine Krise schlitterte. In meinen Alltag war eine Beklemmung eingesickert, die ich nicht mehr abschütteln konnte. Nach ein paar Wochen lud die Beklemmung die Schlafstörung und die Zukunftsangst ein. Das Trio hatte mich ziemlich fest im Griff.
«Frau, wenn du da jetzt nicht hingehst, verdienst du es nicht, Psychologin zu werden!»
Caroline Fux, Psychologin
Eine komplett neue Perspektive
Vor jedem Semester erhielten wir Studierenden einen kleinen, grünen Flyer zugeschickt, der auf die Möglichkeit aufmerksam machte, sich an der Uni kostenlos psychologisch beraten zu lassen. Diesmal legte ich ihn nicht achtlos zur Seite, sondern sagte mir: «Frau, wenn du da jetzt nicht hingehst, verdienst du es nicht, Psychologin zu werden!»
Dann sass ich nervös im Wartzimmer und war beleidigt, als ich von einem Althippie in Ledergilet und Jesussandalen hereingebeten wurde. Er schien mir krass weniger cool als die schnittige Psychologin, die der Studentin vor mir zugeteilt worden war.
Was soll ich sagen? Oberflächlichkeit rächt sich. Der Typ und seine Arbeit waren eine Wucht. Nach zwei Sitzungen hatte ich eine komplett neue Perspektive auf mich, meine Situation und meine drei ungeliebten Begleiter. Ich war in Bezug auf das Annehmen von Hilfe ein für alle Mal geläutert.
Heute habe ich ein wunderbares Netzwerk aus privaten und professionellen Supporterinnen und Supportern, ohne die ich keinen Tag sein möchte. Weil: Hilfe bekommen rockt! Ich bin süchtig danach, erst recht seit ich begriffen habe, dass es meine Autonomie fördert und nicht behindert.
So klappt es, wenn Sie Hilfe beanspruchen
Wenn auch Sie sich wandeln wollen, nützen Ihnen vielleicht folgende Überlegungen:
- Tasten Sie sich langsam an das Projekt «Hilfe annehmen» ran. Suchen Sie sich eine Person, der Sie vertrauen. Das kann jemand Nahestehendes sein – oder eine neutrale, fast schon distanzierte Person, etwa bei einer Fachstelle. Hauptsache, Sie fangen irgendwo an.
- Planen Sie ein, dass der Prozess Zeit und Energie braucht. Erscheinen Sie also, wenn möglich, nicht erst um fünf vor zwölf, wenn Sie bereits komplett ausgepumpt sind. Oder akzeptieren Sie wenigstens, dass die erste Phase des Hilfeprojekts vielleicht heisst, erst mal Energie zu sammeln und Verletzungen zu heilen, bevor Sie das eigentliche Thema anpacken. Aus beraterischer Sicht eigentlich eine schöne, wertvolle Phase, aber eben längst nicht immer das, was sich die hilfesuchende Person als dringendsten Punkt vorstellt.
- Denken Sie daran, dass Sie nicht blind jeden Vorschlag annehmen und umsetzen müssen, den man Ihnen macht. Sie dürfen und sollen sich weiterhin frei und autonom fühlen. Tun Sie nur, was sich gut und richtig anfühlt. Zugegeben, auch Gutes und Richtiges kann anstrengend sein und Überwindung brauchen – aber Unterstützung sollte Sie dort abholen, wo Sie sind, und dorthin bringen, wo Sie sein möchten. Wenn sich etwas schräg anfühlt, stimmt vielleicht die Intervention, aber die Zeit dafür ist noch nicht gekommen.
- Seien Sie stolz auf sich, dass Sie sich helfen lassen. Support holen ist eine Disziplin von Profis, nicht von Schwächlingen. Keine, wirklich keine der Personen, die Sie schätzen und bewundern, ist dorthin gekommen, wo sie ist, ohne Unterstützung anzunehmen. Das gilt für Grössen im Sport, in der Wissenschaft oder am Kinder- und Krankenbett. Und für Königinnen des «Selber!» sowieso.
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2 Kommentare
Hilfe annehmen um in den tiefsten Keller der Angst, Verletzung, Schmerz hinabzusteigen.. zu begreifen was überhaupt los ist..
Ist nichts für Feiglinge
Der Preis ist hoch:
Schmerz, Rotz und Tränen.
Aber!
Tief im Schlamm im Tal der Tränen
sind die grössten Gold-Nuggets verborgen!
Der Gewinn, falls es klappt, ist höher:
Nichts weniger als
Klarheit, Erleichterung, vielleicht
Erlösung, Freiheit…
Fähigkeit, ein selbstbestimmtes, gelassenes, entspanntes Leben zu leben.
Ich hab grössten Respekt für alle,
die sich drauf einlassen.
Und bedaure die, die das Stigma
„In Therapie gehen“ aufrecht halten, und auf uns herab zu blicken glauben zu können.
Sie sollten zu uns aufblicken!
Der Sprachgebrauch "gut sein im Annehmen von Hilfe" ist ärgerlich. Gehört sich-Hilfe-holen jetzt bereits zu Skills, so wie gut sein in Mathematik. Das ist doch kompletter Unsinn. Von einer Psychologin erwarte ich eine gewisse Sprachkompetenz. Es geht hier - wenn überhaupt - um eine niederschwellige Selbstüberwindung, nicht zu vergleichen mit grossen Leistungen dieser Art. Heute, wo Therapie-Speech zum täglichen Sprachgebrauch gehören, besonders in den Medien, ist es doch selbstverständlich, Hilfe zu beanspruchen, wenn jemand wirklich leidet. Es ist geradezu zu einem Lifestyle Attribut geworden, das einen Menschen positiv auszeichnet, wenn er "seinen Psychologen oder seine Psychiaterin" hat. Schon etwas befremdlich, wenn eine Psychologin offenbar nicht unterscheiden kann (oder will?) zwischen ihrer Befindlichkeit und dem, was ausserhalb, in der Gesellschaft abgeht.