«Man muss wieder zusammenfinden»
Nach mehreren Monaten im Homeoffice kehren viele ins Büro zurück. Sich daran wieder zu gewöhnen, wird ein langer Prozess sein, sagt Psychologe Thomas Ihde.
Veröffentlicht am 16. Juli 2021 - 08:52 Uhr
Beobachter: Herr Ihde, früher gingen alle jeden Tag ins Büro. Was soll denn so schwierig sein jetzt bei der Rückkehr?
Thomas Ihde: Nach einem Jahr Homeoffice haben wir endlich wieder einen Rhythmus gefunden. Wir haben uns arrangiert mit all diesen Zoom-Meetings
und den virtuellen Kaffeepausen. Und nun soll plötzlich wieder ein anderer Rhythmus gelten. Die Rückkehr ins Büro ist deshalb eine grosse Herausforderung, für die Arbeitgeberinnen genügend Zeit und Raum einplanen müssen.
Aber ein paar Tipps haben Sie schon?
Idealerweise geschieht die Rückkehr gestaffelt – etwa indem man die Arbeitszeit vor Ort jeden Monat schrittweise erhöht. Sinnvoll kann auch ein besonderer Event sein, mit dem man die Rückkehr gemeinsam begeht, wo das Eis gebrochen wird und man sich über das Erlebte austauschen kann. Nicht selten haben sich Konflikte aufgetan, die während des Homeoffice ungehindert schwelen konnten. Hier muss man genau hinschauen. Themen, die polarisieren – wie etwa das Impfen
–, sollte man in den ersten Wochen hingegen aussen vor lassen. Momentan geht es darum, wieder zusammenzufinden.
Weshalb gestaltet sich gerade die Rückkehr so konfliktreich?
Die Art, wie Konflikte entstehen – oder deeskaliert werden –, ist in der Regel sehr subtil. Zwar verfügen wir mittlerweile über gute technische Instrumente. Diese decken aber nicht alle unsere fünf Sinne ab. Gesten und Zwischentöne bleiben im virtuellen Raum häufig unbemerkt. Das kann leicht zu Missverständnissen führen. Im Homeoffice haben wir auch häufiger bilateral kommuniziert – und dabei über Arbeitskollegen gesprochen, die nicht anwesend waren. Lästern galt (und gilt) schon fast als Beziehungspflege. Kommt dazu: Ungezwungene Begegnungen sind nahezu ganz weggebrochen. Dabei wäre gerade der Schwatz in der Kaffeepause wichtig. Wer seine Arbeitskollegin beiläufig fragt, wie ihr Wochenende gewesen ist, vermag ebenso beiläufig einen Satz zurechtrücken, der ihr in der vorherigen Sitzung vorher möglicherweise in den falschen Hals geraten ist.
«In den ersten Wochen liegt der Fokus vor allem auf dem Sozialen, und man wird womöglich weniger produktiv sein als sonst.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Welche Massnahmen können insbesondere Arbeitgeberinnen treffen, damit die Rückkehr möglichst reibungslos gelingt?
Nach der Rückkehr ins Büro klagen viele Arbeitnehmende über Konzentrationsschwierigkeiten. Man ist es schlicht nicht mehr gewohnt, mit all den Reizen umzugehen – selbst wenn das früher einmal «normal» war. In einer ersten Phase können hier technische Hilfsmittel helfen, etwa Noise-Cancelling-Kopfhörer. Man kann Arbeitsplätze auch umstrukturieren und Trennwände anbringen. Übrigens: Vielfach ist gar nicht die Rückkehr ins Büro das Thema, sondern das Pendeln. Im Büro fühlt man sich weitgehend vertraut und sicher. Viel eher bereitet einem die Vorstellung Bauchweh, wieder in einem vollen SBB-Wagen der zweiten Klasse zu sitzen – zusammen mit Unbekannten, die schlimmstenfalls nicht einmal eine Masken tragen. Hier können Arbeitgeberinnen die Arbeitszeiten beispielsweise so legen, dass man nicht in den Stosszeiten pendeln muss.
Viele Arbeitnehmenden sind extrem verunsichert, wie es in Zukunft weitergehen wird.
Tatsächlich leben wir momentan mit sehr vielen Unsicherheiten. Welche Eltern fragen sich jetzt zum Beispiel nicht, ob es mit den Sommerferien auf Sizilien oder Mallorca tatsächlich klappen und wie es danach mit der Schule weitergehen wird? Wenn die Unternehmen ihren Arbeitnehmenden also zumindest in puncto Arbeit eine gewisse Sicherheit geben können, ist dies sehr wertvoll. Klar kann sich ein Unternehmen nicht zu 100 Prozent festlegen, wie der Arbeitsalltag in Zukunft aussehen wird. Es wäre aber entlastend, ungefähr zu wissen, was hier von den Vorgesetzten angedacht ist. Und es ist genauso wichtig, dass man sich selber gewisse Sicherheiten schafft – etwa indem man Rituale pflegt
und die Tage strukturiert.
Was kann man sich darunter genau vorstellen?
Wer vom Pendeln gestresst ist, macht abends womöglich einen kurzen Waldspaziergang
. Weil man dort wenigen Leuten begegnet und es still ist. Wer sich beim Joggen erholt, plant dafür genügend Zeit ein – idealerweise mehr als in weniger stressigen Zeiten. Den Arbeitsalltag kann man strukturieren, indem man sich im Vornherein zum Lunch oder auf ein Feierabendbier verabredet. In den ersten Wochen liegt der Fokus vor allem auf dem Sozialen, und man wird womöglich weniger produktiv sein als sonst.
Der Anfang ist besonders schwierig. Es ist doch so, wie wenn man nach langen Ferien zurück ins Büro kommt.
Das ist so. Wenn man eine Woche weg war, weiss man, dass man am ersten Arbeitstag
zu nichts kommen wird. Ein Gang von 100 Metern dauert dann eine Viertelstunde, weil man mindestens 17-mal gefragt wird, wie die Ferien waren. Nach drei Monaten braucht man eine ganze Woche, bis man allen Kollegen davon berichtet hat. Und jetzt stelle man sich mal eine Auszeit von einem Jahr vor. Es ist übrigens auch nicht die Zeit, Grosses oder Neues anzureissen und sich dafür unnötig unter Stress zu setzen.
So schön es ist, die Arbeitskolleginnen wieder zu treffen. Soziale Kontakte können einem in der ersten Phase aber doch auch überfordern.
Nicht unbedingt. Wer einige Zeit alleine in der Wüste verbracht hat, findet Menschenmassen danach komisch. Wer ein Jahr in New York gelebt hat, fühlt sich im abgelegenen Bergdorf zunächst wohl auch völlig fehl am Platz. An das jeweilige Ausmass unserer sozialen Kontakte müssen wir uns immer wieder neu gewöhnen. Für den einen ist es schnell so, wie es einmal war. Für den anderen kann bereits das Mittagessen in der Betriebskantine eine unüberwindbare Herausforderung sein. Für diesen Fall kann man in der ersten Zeit vielleicht einfach ein Sandwich mitnehmen und sich allein oder zu zweit auf eine nahegelegene Parkbank setzen.
Gibt es ein Rezept, wie der Angewöhnungsprozess besser gelingt?
Wieso sich diesen Prozess nicht wie eine Treppe vorstellen? Eine Treppe, die zehn Stufen hat und für deren Bewältigung man sich zehn Wochen Zeit nimmt. Jede Woche führt man wieder etwas ein, das man früher auch gemacht hat. Wenn einem eine Stufe zu hoch erscheint, dann schafft man sie womöglich am nächsten Tag. Jede Stufe braucht die Zeit, die sie eben braucht.
Zur Person
Thomas Ihde ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH sowie Präsident der Stiftung Pro Mente Sana, die sich für die Interessen von psychisch Erkrankten einsetzt.
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