Was tun, damit man die Selbstbeherrschung nicht verliert?
Hat man sich in gewissen Situationen nicht mehr unter Kontrolle, liegt das oft an schmerzhaften Kindheitserfahrungen. Wer sich dessen bewusst ist, kann sich besser beherrschen.
Veröffentlicht am 18. Juli 2022 - 14:56 Uhr
Frage eines Lesers: Ich bin meist ausgeglichen. Aber wenn man mich nicht ernst nimmt, kann ich explodieren. Was tun?
Antwort von Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin:
Sie beschreiben deutlich das krasse Wechselbad Ihrer Gefühle. Auf der einen Seite der differenzierte und hilfsbereite Mann, der im Beruf und im Freundeskreis geschätzt ist. Der hilft, Konflikte zu lösen, und immer ein Ohr hat für die Nöte anderer.
Das Gegenstück: Wenn man Sie und Ihre Anliegen nicht hört, Ihre Sicht der Dinge nicht beachtet und einfach über Ihre Meinung hinweggeht, werden Sie zum Berserker. Erst innerlich, wenn Sie spüren, wie sich das Feuer an der Lunte rasend schnell auf Ihr seelisches Munitionslager zubewegt.
Dann der Verlust der Beherrschung. Sie werden laut, böse und greifen an. Wie ein Rumpelstilzchen fordern Sie aggressiv Raum, Aufmerksamkeit und Recht. Ihre Empörung tobt als loderndes Feuer in Brust und Hals. Sie machen Vorwürfe, beschuldigen und verhöhnen Ihr Gegenüber, wenn es versucht, sich zu rechtfertigen.
Irgendwann ist es vorbei, und zurück bleibt ein irritiertes bis verstörtes Umfeld. Und bei Ihnen – nichts als abgrundtiefe Scham. So wollen Sie nicht sein, das widerspricht allen Werten, die Ihnen wichtig sind. Und dass es schon wieder passiert ist, gräbt an Ihrem Selbstwertgefühl . Ihre engsten Freunde kennen beide Seiten und haben gelernt, damit umzugehen: Sie suchen das Weite, wenn es losgeht.
Was passiert in solchen Momenten? Sie beschreiben sich als Mann, der ein eigentlich stabiles Ich ausgebildet hat, ein sogenanntes Erwachsenen-Ich. Es beinhaltet Ihre Werte, Ihre Ideen und Ihre bewusste Identität. Es verfügt über eine breite Palette an unterschiedlichen Gefühlen und ist auch in der Lage, diese zu regulieren, quasi emotional die Kirche im Dorf zu lassen. Das ermöglicht einen guten Umgang, beruflich wie privat.
Nur ein Thema gibt es, das aus Dr. Jekyll einen Mr. Hyde macht: nicht ernst genommen zu werden. Wenn Sie sich missachtet fühlen, triggert das etwas in Ihnen, was Ihr Erwachsenen-Ich ausser Kraft setzt und stattdessen das Steuer übernimmt.
«Es ist das innere Kind, das verzweifelt die Regie übernimmt, ohne dass uns das bewusst wird.»
CHRISTINE HARZHEIM, PSYCHOLOGIN FSP UND SYSTEMISCHE FAMILIENTHERAPEUTIN
In der Psychologie spricht man in diesem Zusammenhang vom verletzten inneren Kind. Damit sind alle Prägungen, alle emotionalen Zustände gemeint, die in unserem Unterbewusstsein gespeichert sind. Vor allem schmerzliche Erfahrungen ruhen hier. Erst wenn in der Gegenwart etwas geschieht, was an den alten existenziellen Kummer erinnert, werden diese unbewussten Reste reaktiviert. Das innere Kind bäumt sich erneut tief verletzt und verzweifelt auf und übernimmt die Regie, ohne dass uns das bewusst wird. Wir verhalten uns plötzlich wie ein tobendes Kind. Ohne Rücksicht auf Verluste, als ginge es um Leben oder Tod.
In so einem Moment realisiert das Erwachsenen-Ich nicht, dass es das Zepter der jüngeren Version seiner selbst überlassen hat. Erst im Anschluss, wenn das Geschirr zerschlagen ist, wird uns der Kontrollverlust bitter bewusst: Schon wieder sind wir im Rausch der Emotionen weit über das Ziel hinausgeschossen. Zerknirscht räumt das Erwachsenen-Ich die Scherben weg und gelobt Besserung. Bis zum nächsten Mal.
Um solche wiederkehrenden Abläufe zu durchbrechen, braucht es Reflexion und eine geschulte Wahrnehmung. Welches sind die Momente, die mich auf die Palme bringen?
Wichtige Hinweise auf die Aktivierung des inneren Kindes sind die Heftigkeit der Gefühle wie auch die Geschwindigkeit, mit der sie sich von null auf hundert zubewegen. Immer wenn uns Empörung und Wut schier überfluten, ist vermutlich etwas Altes im Spiel. Allein dieses Bewusstwerden zündet ein Licht des Verstehens im trüben Unterbewussten an.
Das Erwachsenen-Ich kann nun unterscheiden: Wie viel Gefühl ist angemessen für das aktuelle Ärgernis, was geht darüber hinaus und wird woanders gespeist? So entsteht eine achtsame Distanz zum Auslöser. Sie sorgt dafür (wenn man übt!), dass man innehalten und die brennende Lunte löschen kann, bevor ein Funke alte, vergessene Dynamitlager in der Seele entzündet.
Es hilft, sich im Hier und Jetzt klarzumachen, dass Alltagsungerechtigkeiten uns heute, wo wir gross und stark sind, zwar ärgern, aber nicht mehr gefährlich werden können. Wir sind nicht mehr ausgeliefert wie ein Kind. Wir können unsere Anliegen ruhig, selbstbewusst und beharrlich vertreten.
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