Was Sie tun können, wenn Ihr Umfeld meint, Sie seien zu sensibel
Manche Menschen sind sensibler als andere. Äussere Einflüsse lassen diese Personen enorm leiden. Psychiater Thomas Ihde gibt Tipps, wie man sich eine dickere Haut zulegt.
Veröffentlicht am 28. April 2023 - 13:05 Uhr
Frage einer Leserin: Ich bin zu sensibel. Wie lege ich mir eine dickere Haut zu?
Ihr Anliegen hat etwas sehr Aktuelles. Denn häufig heisst es heute, Jugendliche seien zu sensibel . In Leserbriefen wird zu mehr Abhärtung geraten, eine Saison auf der Alp würde das Problem lösen.
Ihr Freund sagt Ihnen immer wieder, Sie seien zu empfindlich. Dabei können Sie diesen inneren Schmerz einfach nicht steuern, der entsteht, wenn Sie Bilder von gequälten Hunden oder verschleppten Kindern in Russland sehen. Das Projekt Alp haben Sie auch schon probiert. Die Ruhe und Klarheit dort oben tat Ihnen gut. Zumindest anfangs.
Je länger Sie jedoch blieben, umso mehr zeigte sich Ihre Eigenschaft, die Sensibilität . Verletzte Schafe oder unwirsche Worte bewegten Sie halt auch im Gebirge oben. Und da es wenig Ablenkung gab, war es schliesslich sogar noch schlimmer als zu Hause.
Gesellschaft braucht einen Mix von Charakteren
Unsere Gesellschaft braucht Menschen, die feinfühlig wahrnehmen und auf ein leichtes Erdbeben stärker reagieren und warnen. Genauso braucht sie aber auch Menschen, die bei einem Erdbeben stoisch bleiben und Rettungsaktionen einleiten.
Heute würdigen wir als Gesellschaft vor allem Letzteres. Es kann aber nicht sein, dass wir alle unsere Sensibilität hinter einem dicken Panzer verstecken. Ein Fussballteam besteht auch nie aus elf Stürmern oder elf Goalies, es braucht eine Mischung und verschiedene Aufgaben.
Sie können sich also überlegen, wie Ihre verschiedenen Teams aussehen – Familie, Freundeskreis, Ihr Team am Arbeitsplatz. Wer dort welche Funktion hat und wie Sie dort Ihre Sensibilität vielleicht gerade als wichtige Eigenschaft einbringen können.
«Innere Sicherheit ist wie ein Fels. Wenn er klein ist, schwingen wir zu sehr mit dem Wind.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Sie können auch überlegen, wann in Ihrem Leben die Sensibilität ein Schutz war. Unliebsame Eigenschaften sind manchmal alte Schutzschilde aus der Kindheit. Vielleicht hat Ihre Sensibilität einen Bezug zum plötzlichen Unfalltod Ihres Vaters, als Sie sechs waren. Seither versuchen Sie sich vielleicht vor Unerwartetem zu schützen.
Nun hat Ihr Freund nicht unrecht mit dem Hinweis, dass es alles eine Frage des Masses ist. Ihn stört es nicht, dass Sie ein so grosses Herz für Tiere haben. Ihn stört, dass Ihr Mitleid mit verletzten Tieren ein ganzes Wochenende überschatten kann. Hier kann eine Psychotherapie hilfreich sein, in der Sie besser lernen, Ihre Gefühle zu regulieren.
Innerlich wachsen und Neues wagen
Oft geht es aber auch darum, den Selbstwert besser zu erforschen und mehr innere Sicherheit zu erlangen. Innere Sicherheit ist wie ein Fels. Wenn er klein ist, schwingen wir zu sehr mit dem Wind. Selbstmitgefühl macht diesen inneren Fels grösser, und Achtsamkeit hilft uns , mit weniger Selbstzweifeln und Ängsten der Welt gegenüberzutreten.
Und schliesslich kommt dann doch auch die Alp zum Zuge. Wenn wir unsere Komfortzone verlassen und etwas wagen, ist inneres Wachstum möglich. Man spricht hier davon, ein sogenannt positives Risiko einzugehen. Das kann eben ein Sommer auf der Alp sein – oder auch ein Schauspiel- oder Clownkurs.
Dort lernen Sie spielerisch, aus Ihrer Haut zu schlüpfen und eine andere Person zu spielen, die ihre Gefühle anders reguliert und selbstsicher wirkt. Aber vor allem haben Sie etwas völlig Neues gewagt. Und das Erfolgsgefühl fühlt sich wunderbar an und hat eine nachhaltige Wirkung auf Ihren Selbstwert und Ihr inneres Sicherheitsgefühl.
Besser mit der eigenen Sensibilität umgehen
Schliesslich empfehle ich Ihnen auch, auf Ihr Umfeld und Ihre Beziehung zu ihm zu achten. In einer Psychotherapie verändert sich etwas vielleicht um 30 Prozent. Sie werden also nicht von der eher scheuen, introvertierten und sensiblen jungen Frau zu einer angstlosen Abenteurerin.
Sie werden einen besseren Umgang mit Ihrer Sensibilität erlernen – ein Stück weit sensibel werden Sie aber bleiben.
Wählen Sie sich also ein Umfeld, das Sie auch mit Ihrer Sensibilität akzeptiert, aber in dem Ihre Sensibilität auch nicht ständig aktiviert wird.
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