Fragen kann Leben retten
Jemand verhält sich plötzlich distanziert, man vermutet Suizidabsichten. Darf man die Person darauf ansprechen?
Veröffentlicht am 14. Mai 2020 - 10:55 Uhr,
aktualisiert am 12. März 2021 - 11:00 Uhr
Leserfrage: Darf man jemanden überhaupt auf Suizidgedanken ansprechen?
Sie erwähnen ein Tabu, das sich hartnäckig hält – und sehr gefährlich ist. Zuerst aber etwas ausführlicher zu Ihrer Situation: Sie machen sich Sorgen um einen guten Kollegen. Er wirkte immer sehr zufrieden, robust und belastbar, auch wenn er es nicht einfach hatte. Jetzt rief er vor ein paar Tagen an und erklärte, er sei völlig am Anschlag und wisse nicht mehr weiter. Er wirkte sehr verzweifelt, so kannten Sie ihn gar nicht.
Seine Situation war durch die Veränderungen rund um Corona noch schwieriger geworden, nun auch noch die Finanzen mit der Stilllegung des kleinen Fitnessstudios, das er betrieb. Auch der einzige Sohn, der in Basel lebte, hatte sich die ganze Zeit nie gemeldet.
Sie gingen trotzdem eigentlich mit einem guten Gefühl aus dem Gespräch. Ihr Kollege war wohl froh, ein offenes Ohr gefunden zu haben. Sie lachten beide auch herzhaft und planten das Eröffnungsfest des Fitnesscenters für die Zeit nach dem Corona -bedingten Knastaufenthalt, wie er es nannte.
Ein paar Tage später telefonierten Sie wieder, und das Gespräch war irgendwie sonderbar. Er meinte, es ginge ihm gut. Dabei schien es aber gar nicht so. Er wirkte angestrengt und distanziert, als wolle er sich nicht wirklich auf ein Gespräch einlassen.
Am Abend sassen Sie noch lange am Tisch. Irgendetwas meldete sich in Ihnen, liess Sie nicht zur Ruhe kommen. Und plötzlich war klar, was es war. Vor zehn Jahren hatten Sie eng mit jemandem in einem Projekt zusammengearbeitet, auch da war es plötzlich so sonderbar gewesen. Sie spürten damals, dass etwas anders war, wussten aber nicht, was. Im Nachhinein fanden Sie heraus, dass es anderen ähnlich gegangen war wie Ihnen.
Den Mitarbeiter sahen Sie tragischerweise nie mehr. Er verstarb für alle unerwartet an einem Suizid. Und das war genau der Gedanke respektive die Angst, die Ihnen nun wieder im Nacken sass. War der Kollege suizidal? Ansprechen konnten Sie ihn nicht, dachten Sie. Wie denn auch? Es ist doch so etwas Privates. Zudem hatten Sie gehört, dass das Ansprechen das Suizidrisiko erhöht. Also wie weiter?
«Fragen Sie offen nach möglichen Suizidgedanken. Das kann Leben retten!»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, Präsident von Pro Mente Sana
Ich möchte Ihnen ganz klar raten: Sprechen Sie den Kollegen an auf mögliche Suizidgedanken oder -pläne. Einfach und direkt. Das kann Leben retten !
Seit längerer Zeit gibt es in der Schweiz Kurse für Erste Hilfe im Bereich psychische Gesundheit , sogenannte Ensa-Kurse. Teilnehmende sagen, dass es sie am meisten überrascht hat, zu lernen, dass man Menschen einfach fragen kann (und muss), ob sie Suizidgedanken haben.
Es geht also den meisten wie Ihnen. Hartnäckig hält sich der Mythos, dass Fragen gefährlich ist. Das kommt wohl vom sogenannten Werther-Effekt. Wenn Medien über Suizid berichten, kann das zu vermehrten Selbsttötungen führen. Hier kommt es aber auf die Art der Berichterstattung an, und vor allem darauf, ob die Art des Suizids erwähnt wurde.
Das direkte Fragen bei einem Gespräch hat aber einen klar schützenden Effekt, öffnet mögliche Türen. Es signalisiert, dass man über Suizidgedanken sprechen darf.
Wie könnte das nun in Ihrem Fall aussehen? Ich würde den Kollegen um ein weiteres Gespräch bitten. Und das Thema so angehen: «Unser Gespräch ist mir nachgegangen. Du hast schon gesagt, dass alles wieder gut sei, das würde mich auch sehr freuen. Aber dass sich alles so schnell verändert hat, hat mich doch überrascht. Deine Stimme klang auch nicht wirklich danach, und ich hatte das Gefühl, du willst mir aus dem Weg gehen. Vor ein paar Jahren nahm sich ein Arbeitskollege in einer ähnlichen Situation das Leben. Und diese Angst hatte ich gestern Abend plötzlich auch bei dir. Kann es sein, dass du ebenfalls Gedanken hast, dir das Leben zu nehmen?»
Vielleicht beginnt die betroffene Person dann einfach mehr zu erzählen. Dann ist es am Schluss wichtig, nochmals nachzuhaken, damit Sie wissen, ob Sie sich Sorgen machen müssen oder nicht.
Wenn die betroffene Person sagt, dass sie Suizidgedanken hat, ist es wichtig, eine Brücke zu bauen zu einem Hilfssystem. Bieten Sie an, gemeinsam die Hausärztin oder eine psychiatrische Institution anzurufen, dort über die Suizidgedanken zu informieren und einen Notfalltermin abzumachen. Wenn die Person mit Nein antwortet, Ihr Gefühl aber mulmig bleibt, würde ich ein paar Tage später nochmals nachfragen.
Diese Angebote sind schweizweit rund um die Uhr für Menschen in suizidalen Krisen und ihr Umfeld da – vertraulich und kostenlos:
- Dargebotene Hand: Telefon 143, www.143.ch
- Pro Juventute für Kinder und Jugendliche: Telefon 147, www.147.ch
- Adressen von Beratungsangeboten in allen Kantonen: www.reden-kann-retten.ch
- Kurse für Erste Hilfe für psychische Gesundheit: www.ensa.swiss
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