Der Nachbar als Lebensretter
Bei Herzstillständen kommt der Rettungsdienst oft zu spät. Einige Kantone setzen deshalb auf First Responder. Andere hingegen unterschätzen deren Potenzial.
Veröffentlicht am 10. März 2020 - 10:00 Uhr
Die wenigsten Leute können behaupten, jemals jemandem das Leben gerettet zu haben. Fabio Stalder aus Zäziwil BE schon. Als Laienhelfer, sogenannter First Responder, reanimiert er regelmässig Menschen nach einem Herzstillstand, bis der Krankenwagen eintrifft. Das kann bis zu zehn Minuten dauern, in ländlichen Gebieten eher länger.
Stalder überbrückt wertvolle Zeit: Mit jeder Minute, in der ein Patient nach einem Herzstillstand nicht wiederbelebt wird, sinken seine Überlebenschancen um rund zehn Prozent. Denn nur solange das Blut zirkuliert, können die Organe funktionieren. Bereits nach drei Minuten können irreversible Schäden im Gehirn auftreten. Frustrierend für die Ambulanz
: «Obwohl wir sehr gut sind, kommen wir meistens zu spät», sagt Beat Baumgartner. Er leitet den Rettungsdienst der Spital Simmental-Thun-Saanenland AG und hat 2013 den Verein First Responder Bern gegründet, um diese Lücke in der Rettungskette zu schliessen.
Fabio Stalder kam über die Feuerwehr zum Verein. «Als Feuerwehrmann hat man das Gen, dass man ab und zu etwas für die Allgemeinheit macht», sagt der 31-Jährige. Ab und zu heisst bei Stalder, dass er schon über 140 Mal als First Responder geholfen hat. Auch an diesem Morgen wird er zu einem Einsatz gerufen und unterbricht dafür das Telefongespräch mit dem Beobachter. Alarmiert hat ihn die Berner Sanitätsnotrufzentrale, die bei einem Herzstillstand Rettungsdienst und First Responder informiert. «Die Ersthelfer sind aber keine Konkurrenz, sondern eine Ergänzung», sagt Baumgartner.
Welche First Responder verfügbar sind, sieht die Zentrale in einer App, mit der sich die Ersthelfer registrieren können und bei einem Einsatz benachrichtigt werden. Diesen können sie ablehnen oder annehmen. Nehmen sie ihn an, sind sie verpflichtet, sich schnellstmöglich auf den Weg zu machen. Nach wenigen Minuten beim Patienten angekommen beginnen sie sofort mit der Reanimation. Sobald die Ambulanz da ist, übernimmt sie die Versorgung des Patienten.
Es gilt: Je mehr First Responder, desto besser, denn umso grösser ist die Chance, dass bei einem Herzstillstand ein Ersthelfer in der Nähe ist. «Die ersten Minuten sind entscheidend. Da muss kein Arzt, kein Rettungssanitäter und keine Pflegefrachfrau hingehen, sondern einfach jemand, der gelernt hat, zu reanimieren
», erklärt Baumgartner die einfache Idee hinter dem Modell First Responder.
Im Kanton Bern gibt es mittlerweile 2400 First Responder, bei über drei von vier Einsätzen ist mindestens einer vor Ort. Das System stösst aber an Grenzen: Kantonsgrenzen. First Responder können bei Einsätzen in Nachbargemeinden nicht helfen, wenn diese in einem anderen Kanton liegen. Die App «CH Responder» will das ändern. Wer in der App einer teilnehmenden First Responder-Organisation registriert ist, kann über «CH Responder» alarmiert werden. Bis jetzt sind aber erst vier Kantone dabei: Bern, Solothurn und die beiden Basel.
Auch die Kantone Luzern, Uri und Nidwalden arbeiten zusammen. Sie betreiben die Stiftung First Responder Zentralschweiz und eine gemeinsame App. So machen es auch Fribourg, Waadt und Jura mit der Fondation First Responders.
First Responder-Organisationen in Genf, im Tessin und im Wallis arbeiten nur in ihrem Kantonsgebiet, jeweils auch mit einer eigenen App. Diese basiert, wie die Apps der anderen Kantone, auf derselben Technologie wie «CH Responder». Entwickelt hat sie die Firma DOS Group gemeinsam mit Ticino Cuore.
In Obwalden gibt es seit 2009 den privaten Verein «Herz für Obwalden» mit 160 First Respondern, die noch per SMS alarmiert werden. Das könnte sich bald ändern, der Kanton führt Gespräche über eine mögliche Zusammenarbeit mit der Stiftung First Responder Zentralschweiz.
«Zusammenarbeit ist begrenzt sinnvoll»
Während die einen Kantone ihre First Responder-Netze schrittweise verknüpfen, ist das in anderen noch gar kein Thema. Im Aargau, den beiden Appenzell, Glarus, Graubünden, Neuenburg, St. Gallen, Schwyz, Thurgau, Zug und Zürich gibt es zwar Ersthelfer, oft sind sie aber direkt an die Blaulichtorganisationen gekoppelt und keine Laien. Das heisst, es kann nur so viele First Responder geben, wie es Polizisten , Rettungssanitäter und Feuerwehrleute im Kanton gibt. So ist es auch im Kanton Schaffhausen, der momentan prüft, ob eine kantonsweite Organisation Sinn macht.
Keiner dieser zwölf Kantone plant, zukünftig mit anderen zusammenzuarbeiten. «Da die First Responder in einem definierten Gebiet zuständig sind, ist eine überkantonale Zusammenarbeit in diesem Bereich begrenzt sinnvoll», sagt beispielsweise Günter Bildstein, Leiter des St. Galler Rettungsdienstes. Dieser arbeitet mit rund 450 First Respondern zusammen, die an die Feuerwehren angegliedert sind.
Dass nicht alle Kantone flächendeckend First Responder einsetzen, erstaunt Beat Baumgartner. Er ist vom System überzeugt, das effizient und günstig ist, wenn möglichst viele Personen mitmachen. «Natürlich ist es mit Arbeit und Zeit verbunden, aber man sieht ja die Erfolge.» Deshalb hilft er Kantonen, die ihr First Responder-Netz ausbauen möchten, gerne weiter. Baumgartner selbst hat Tipps aus dem Tessin bekommen. «Der Kanton Tessin hat vorgelebt, dass das, was sie erarbeitet haben, kein Geheimnis ist. So handhaben wir das auch in unserem Verein.»
Als Vorreiter in der Schweiz hat der Kanton Tessin schon vor 15 Jahren eine kantonales First Responder-Konzept erarbeitet und umgesetzt. Mit Erfolg: Bei Personen mit einem Herzstillstand stieg die Überlebensrate zwischen 2005 und 2014 von 15 auf 55 Prozent. Das belegt eine Studie der Stiftung Ticino Cuore, die im Tessin die First Responder koordiniert. Die Studie berücksichtigte alle Herzstillstände, bei denen jemand sofort den Notruf alarmierte, die Ursache vom Herz ausging und der Patient mit einem Defibrillator behandelt werden konnte.
Zur höheren Überlebensrate trug ebenfalls bei, dass die Stiftung kantonsweit Defibrillatoren
installierte, Wiederbelebung zum Schulstoff machte und Patienten direkt in spezialisierte Herzkliniken eingeliefert wurden. Auch neuere Zahlen bestätigen den Erfolg: 2018 überlebten 60 Prozent der Tessiner Patienten einen Herzstillstand. Zum Vergleich: Gesamtschweizerisch liegt der Wert bei dieser Patientengruppe zwischen 15 und 30 Prozent.
Roman Burkart arbeitete bis vor zwei Jahren bei Ticino Cuore und war an der Studie zur Überlebensrate beteiligt. Heute ist er Geschäftsführer des Interverbands für Rettungswesen. Die Dachorganisation koordiniert die Rettungsdienste in der Schweiz, nicht aber die First Responder.
Mittel- bis längerfristig brauche es aber genau das, sagt Burkart. «Die Kantone müssen alle an einen Tisch kommen und einheitliche Standards für First Responder festlegen.» Dann könnte ein Zürcher, der im Tessin Ferien macht, auch dort als First Responder aufgeboten werden.
Das haben Bern, Solothurn und die beiden Basel bei «CH Responder» schon geschafft. Wer in einem der Kantone als First Responder erfasst ist, wird auch von den anderen drei als First Responder akzeptiert. Damit das funktioniert, braucht es auch Übereinstimmung bezüglich des Datenschutzes. Denn momentan betreiben alle First Responder-Organisationen eine eigene App, was den grenzübergreifenden Einsatz von First Respondern zusätzlich erschwert. Die Daten, wie etwa die Adressen der Einsatzorte, sind sehr heikel
und werden von den Kantonen selbst verwaltet. «Für eine nationale Zusammenarbeit müssten sich die Beteiligten darauf einigen, welche Daten wie gesammelt und gespeichert werden», sagt Burkart dazu.
Im Kanton Bern werden First Responder in der App freigegeben, wenn sie einen Nothilfekurs und die Einführungsschulung des Vereins besucht haben. Was sie schon mitbringen müssen, ist «ä gwüssnigä Sprutz u Gspüri», wie es Fabio Stalder ausdrückt. Denn zu den Einsätzen gehört nicht nur, die Patienten wiederzubeleben und den Rettungsdienst zu unterstützen, sondern sich auch um die Angehörigen zu kümmern.
Das liegt Stalder. Baumgartner beschreibt ihn als «Büezer mit einem grossen Herz». Obwohl er keine psychologische oder medizinische Ausbildung hat, meistert er wie alle First Responder immer wieder tragische Situationen. Und damit kann Stalder umgehen: «Ich mache mir keine Vorwürfe. Es ist sowieso etwas passiert. Wenn ich helfen kann, ist das gut und sonst ist es wie es ist.» In belastenden Fällen tauschen sich die First Responder untereinander aus. Sie haben auch die Möglichkeit, sich an ein Care-Team zu wenden. Stalders Einsatz an diesem Morgen ist zum Glück gut verlaufen, er geht danach direkt zurück an die Arbeit. Mit seinem Bruder führt er eine Sanitär- und Spenglereifirma.
Für die Einsätze bekommen die First Responder kein Geld, sie engagieren sich ehrenamtlich. «Aus meiner Sicht darf es keinen monetären Anreiz geben, das zu machen», findet Baumgartner. Auch er erhält keinen Lohn, kann seine einsatzfreie Zeit beim Rettungsdienst aber nutzen, um Vereinsaufgaben zu erledigen. Mit Spenden und Gönnerschaften finanziert der Verein die Material- und Schulungskosten. Zusätzlich verrechnet er 100 Franken pro Einsatz, bei dem First Responder vor Ort waren.
Den Kanton hat der Verein nie um Unterstützung angefragt. «Die haben kein Geld zu verschenken», sagt Baumgartner, «also wählten wir einen anderen Weg und machten einfach mal.»
Das passiert bei einem Herzstillstand
Das Herz hört von einer Sekunde auf die andere auf zu schlagen, der Blutkreislauf kommt zum Erliegen, es gelangt kein Sauerstoff mehr zum Gehirn und zu den Organen, dadurch sterben sofort Tausende Zellen ab. Das führt nach zehn Sekunden zum Bewusstseinsverlust, die Organe werden zunehmend zerstört. Ohne Wiederbelebungsversuche sinkt die Überlebenschance mit jeder Minute um 10 Prozent.
Das sind die Symptome eines Herzstillstandes
Betroffene sinken in sich zusammen, atmen nicht mehr normal, reagieren nicht auf Ansprache oder heftiges Schütteln.
Die Anzeichen eines plötzlichen Herzstillstands sind:
- Der Patient verliert innert weniger Sekunden das Bewusstsein und stürzt zu Boden.
- Er atmet nicht mehr.
- Er hat keinen Puls mehr.
Wenn ein Mensch zusammenbricht, keine Antwort mehr gibt und keinen Puls mehr hat, ist das ein Anzeichen für ein lebensgefährliches Kammerflimmern. Die Pump-Funktion des Herzmuskels ist gleich null. Das Herz pumpt nicht mehr, sondern zuckt und «flimmert» nur noch unkoordiniert und versorgt den Körper nicht mehr ausreichend mit Blut und Sauerstoff. In dieser Situation muss der Herzmuskel innert kürzester Zeit mit einem elektrischen Impuls angeregt werden. Ist kein Defibrillator griffbereit, sollte man sofort mit einer Herzmassage beginnen.
Schritt 1 bei Verdacht auf Herzstillstand
Umstehende Personen deutlich auffordern, sofort den Notarzt (144) zu rufen (sonst selbst Notruf absetzen).
Schritt 2
Sofort mit kontinuierlicher Herzdruckmassage beginnen: Patient auf den Rücken drehen und mit gestreckten Armen die Mitte des Brustkorbs etwa fünf Zentimeter und zweimal pro Sekunde zum Beispiel im Rhythmus von «Staying Alive» eindrücken und wieder entlasten, ohne Unterbrechung, bis der Rettungsdienst kommt. Dadurch bleibt der Blutkreislauf künstlich erhalten, Organe und Gehirn werden weiter mit Blut und Sauerstoff versorgt. Keine Beatmung, das unterbricht den Kreislauf!
Rhythmus für die Herzmassage
Das Lied «Staying Alive» von den Bee Gees gibt den richtigen Takt für die Reanimation vor.
Schritt 3
Nur wenn ein zweiter Helfer vor Ort ist, kann dieser einen eventuell vorhandenen Defibrillator holen und damit den Elektroschock auslösen. Danach sofort weiter mit der Herzmassage, bis der Rettungsdienst eintrifft.
1 Kommentar
Ich war jahrelang Betreuer im Zivilschutz und bin dadurch jährlich in den Genuss eines CPR-Refreshers gekommen. Nach meinem Ausscheiden aus der Organisation würde ich sofort als First Responder weiterhin im Notfall etwas beitragen. Leider ist dies offenbar im Kanton Zürich nicht gewünscht.