Wir müssen reden
Wer Konflikte vermeidet, staut negative Gefühle an. Deshalb sollten wir über unsere Emotionen sprechen, sagt Beobachter-Kolumnist Guy Bodenmann.
Veröffentlicht am 26. April 2024 - 15:01 Uhr
Überall herrschen zurzeit Konflikte. Es geht um territoriale Einflusssphären und Machtinteressen, um ethnische, religiöse oder politische Auseinandersetzungen. Die Bilder, mit denen man täglich konfrontiert wird, sind verstörend, schüren Ängste, hinterlassen Fassungslosigkeit, Traurigkeit, Resignation – viele negative Emotionen und düstere Gedanken.
Es erstaunt daher nicht, dass Konflikte negativ assoziiert sind, generell und besonders am Arbeitsplatz und zu Hause. Die Neigung, Konflikten aus dem Weg zu gehen, ist daher auf den ersten Blick verständlich.
Negative Gefühle stauen sich an
Im Büro ist das «Radfahrersyndrom» häufig: nach oben buckeln, nach unten treten. Man getraut sich nicht, seinen Ärger auszudrücken, macht gute Miene zum bösen Spiel, wahrt eine freundliche Fassade, reisst sich zusammen, will keine Konflikte. Die negativen Gefühle behält man für sich. Sie stauen sich an und entladen sich meist abends in der Partnerschaft oder der Familie.
Dort lässt man sich gehen, ist dünnhäutig, gereizt, sarkastisch oder verschlossen und abweisend. Gegenüber dem Partner, der Partnerin oder den Kindern gestattet man sich Verhaltensweisen, die man sich am Arbeitsplatz nie getrauen würde. Nirgendwo verhalten wir uns gegenüber anderen so hemmungslos wie in den eigenen vier Wänden. Hier lassen wir uns gehen, muten dem anderen alles zu, in der Meinung, dass man es sich hier leisten kann.
«Sozialverträgliche Charaktere sprechen Störendes an, bevor sie emotional geladen sind.»
Guy Bodenmann, Paartherapeut
Oder aber man vermeidet Konflikte ganz. Dies kann verschiedene Gründe haben. Zum einen gibt es Menschen, die konfliktscheu sind und ein starkes Harmoniebedürfnis aufweisen, jedes laute Wort erschreckt sie. Sie werten dies als Zeichen für Zurückweisung, Ablehnung oder in der Freundschaft oder Partnerschaft als Vorboten für eine Trennung. Oftmals fehlt es jedoch auch am Mut, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Man ist angepasst und nett, um anderen zu gefallen, beliebt zu sein, nicht anzuecken, andere nicht zu brüskieren.
Am Arbeitsplatz getraut man sich nicht, Nein zu sagen, andere zu kritisieren, für die eigenen Rechte einzustehen, aus Angst, es könnte der Karriere schaden oder man könnte missfallen, sich unbeliebt machen. Einige sind resigniert, da sie erkannt haben, dass ihre Vorstösse zu nichts führten, Konflikte versandeten oder eskalierten, und sie ihnen deshalb nun aus dem Weg gehen. Und dann gibt es diejenigen, die Konflikte nicht mit den Personen austragen, die sie betreffen, sondern die negativen Gefühle an anderen herauslassen.
Vermeidung führt zu körperlichem Stress
Und schliesslich spielen biologische Prozesse eine Rolle. Konflikte wühlen emotional und physiologisch auf und gehen selbst Stunden später mit einem höheren Stressniveau einher. Dies wird als höchst unangenehm empfunden. Künftig Konflikte zu vermeiden, ist daher naheliegend.
Bei allen Formen der Vermeidung stellt sich dasselbe Problem: Die negativen Gefühle können nicht angemessen ausgedrückt und bewältigt werden, und es werden keine passenden Lösungen gefunden. Die Probleme bestehen fort und die negativen Gefühle kumulieren. Sie vergiften das Erleben und soziale Interaktionen, äussern sich in psychosomatischen Beschwerden (chronische Verspannungen, Rückenschmerzen, Verdauungsstörungen, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Schlafstörungen), Burn-out oder in einem plötzlichen vehementen emotionalen Ausbruch.
Falsch ist die Annahme, dass man deshalb keine Konflikte hat, weil man ein sozialverträglicher, angenehmer Mensch ist. Richtig ist, dass sozialverträgliche Charaktere ihre Konflikte konstruktiv austragen. Sie sprechen Störendes an, bevor sie emotional geladen sind.
Die meisten Probleme lösen sich eben nicht von selbst.
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2 Kommentare
Ich arbeite bei einem Bundesbetrieb, welcher gerne angibt ein aussgezeichneter Arbeitgeber zu sein. Leider sieht es an der Front anders aus. Man muss alles ausbaden und darf nichts sagen. Die Gesundheit und Privatleben leidet darunter.
Danke für den Bericht....
Erinnert mich an die vorzügliche Literatur von Marshall Rosenberg und Schulz von Thun. Doch die wichtige Frage welche sich heute immer mehr stellt ist folgende: Wie sehr bringe ich mich und meine Liebsten in Gefahr, wenn ich über ein mir wichtiges Thema rede, und Argumente vorbringen, welche meine Zuhörer oder mein Gegenüber nicht hören wollen. Nicht möchten das diese von Anderen gehört werden. Nicht die womöglich starken Gefühle aushalten möchten, welche das Thema aus der Verdrängung holen könnte. Wer heute genug finanzielle Mittel hat, kann aus einem Engel einen Schmutzfinken machen, und soviel Angst verbreiten, das Massen Lügen anbeten. Sofskys Worte (Buch Traktat der Gewalt) und Kafka (Der Prozess) sind heute leider zum Teil eine Realität geworden, was ich sehr, sehr traurig finde. Diese Gewalt hindert die Menschen am Reden.