Wie die Sinne die Selbstheilung unterstützen
Ein Arzt erhält die Diagnose Leukämie. Doch statt gleich mit der Behandlung zu beginnen, schärft er erst seine Sinne, um seinen Körper wieder besser zu spüren.
aktualisiert am 13. Dezember 2018 - 11:24 Uhr
Es war in den 80er-Jahren, als der Krebsmediziner Gerd Nagel an einer akuten Leukämie (Blutkrebs) erkrankte. Damals hatte er statistisch gesehen eine überlebenschance von gerade mal rund 30 Prozent. Aber der Arzt glaubte nicht an Statistiken, wenn es um den Einzelfall geht: «Im Einzelfall stehen die Chancen immer 50:50 !», sagt der heute 82-Jährige. Und er ergänzt: «Damals waren die Ergebnisse der Leukämietherapie zwar noch nicht so gut wie heute. Trotzdem war ich mir sicher: Das schaffe ich!»
Komplizierter seien andere Fragen gewesen: Wie aggressiv sollte er sich behandeln lassen, durch wen und wo? Wann soll die Therapie beginnen? «Ich hatte ja schon Blutungen – bei Leukämie ein Alarmsignal. Aber für eine Therapie fühlte ich mich noch nicht reif, ich war noch gar nicht auf das Kommende eingestellt», reflektiert er seinen damaligen Zustand.
Und die täglichen Begegnungen mit seinen Krebspatienten fielen ihm immer schwerer, er sei zunehmend erschöpft gewesen. Ihm sei klar geworden: «In dem Zustand, in dem ich jetzt bin, schaffe ich das nie und nimmer.»
Der Krebsmediziner beschloss, seine Familie und sein Arbeitsumfeld für ein paar Tage zu verlassen und quartierte sich in einem kleinen Ort ein, der von einsamen Wäldern umgeben ist. Dort suchte er nach seinen Quellen der Kraft .
Nagel beschreibt, dass diese Arbeit an sich selbst mit einer erschreckenden Erkenntnis begann: «Ich wusste nicht mehr, wo und welches meine Kräfte sind. Ich fragte mich: Wer bin ich? Und fand keine Antwort. Ich versuchte mich zu spüren, aber ich spürte nichts. Ich suchte meinen früheren Glauben – vergeblich.» Er erkannte, dass er sich in dem ganz normalen Wahnsinn seines leistungszentrierten Alltags verloren hatte.
Als Mediziner glaubte der damalige Mittvierziger nicht an einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Krise und Krebs. Wohl aber, dass der Krebs schon länger in ihm drin gesteckt hatte und der lieblose Umgang mit sich selbst, gepaart mit der rücksichtslosen Selbstausbeutung seiner körperlichen und seelischen Kraft, den Ausbruch bewirkt haben könnte.
Deswegen glaubte Nagel auch nicht an einen Therapieerfolg. Ihm war klar: «Heilung gelingt nur, wenn all meine Kraft diesem Zweck dient.» Menschen mit Krankheiten, die medizinisch nicht heilbar sind, ermutigt der Mediziner, der später das deutsche Bundesverdienstkreuz erhalten sollte, mit den Worten: «Heilung ist nicht das Ziel – Ihre Aufgabe ist nur, im Prozess der Heilung zu bleiben.»
«Ich lernte mich über meine Sinne selbst wieder kennen, kam zu mir und zurück zu meinen Kräften.»
Gerd Nagel, Krebsmediziner und ehemaliger Leukämie-Patient
«Ich hatte gemerkt, dass ich völlig abgestumpft war. Früher war ich sinnesbewusst, habe wahrnehmungsfähig geschaut, gehört, gerochen, gespürt. Das war alles weg, und ich wusste, dass das Trainieren meiner Wahrnehmungsfähigkeit mich stärken würde», sagt Nagel. Im Wald schulte er bewusst seine Sinne: «Ich hörte das leise Rascheln der Samenkapseln eines Farns im Winde, ich versuchte, Bäume an ihrem Geruch zu unterscheiden, nahm Blätter und Früchte in den Mund, um wieder schmecken zu können. Ich strich über Rinden, Moos, Felsen, ging barfuss auf dem Waldboden und durch Bäche.»
Er habe sich über seine Sinne selbst wieder kennengelernt, und kam so wieder zu sich selbst – und zurück zu seinen Kräften. «Erst jetzt war ich bereit für die Chemotherapie.»
Nagel fand seine Kräfte in den Wäldern wieder, und er wurde trotz relativ geringer Heilungswahrscheinlichkeit gesund. Bereits ein paar Monate nach der Chemotherapie kletterte der Mediziner wieder auf die europäischen Viertausender. Und er klettert auch heute, mit über 80, noch mit grossem Vergnügen.
Seine Sinne hat er nie wieder vernachlässigt, sie sind nach wie vor eine Quelle der Freude, der Ruhe und der Kraft für ihn. Dieses Erlebnis hat ihn so sehr beeindruckt, dass er nach seiner Pensionierung eine Stiftung zur Förderung und Erforschung von Patientenkompetenz gründete.
Die eigenen Sinne, das Erleben von Sinnlichem kann Glücksgefühle wecken, und einen auf angenehme Weise näher zu sich selbst bringen. Das Vertrauen in den eigenen Körper wird gefördert, weil man ihn wieder als Quelle von angenehmen Empfindungen erleben kann.
Die nachfolgenden Übungen sollen helfen, die Sinne wieder aktiv zu spüren – und damit die eigene Körperwahrnehmung verbessern.
Diese Übung macht nur gemeinsam mit Gleichgesinnten Spass – vor allen Dingen, wenn Kinder mit dabei sind.
Jeder sucht sich in der Küche ein paar essbare Dinge zusammen (Gemüse, Käse, Brot, Gummibärchen, Schokolade, getrocknetes Obst etc.) und schneidet kleine Würfelchen davon. Einer verbindet nun allen anderen die Augen und reicht Würfelchen herum. Alle raten, um welches Nahrungsmittel es sich handelt. So geht es reihum; wer die meisten Nahrungsmittel erraten hat, gewinnt.
Machen Sie Ihre Mitspieler darauf aufmerksam, dass sie die Würfelchen auf verschiedenen Stellen der Zunge kosten sollen. Es ist verblüffend, wie schwer es gerade für Erwachsene ist, Geschmäcker zu erkennen, wenn das Auge nicht mitmachen darf und die Konsistenz wegen der Winzigkeit der Würfel von der Zunge schwer zu ertasten ist.
Das gleiche Spiel können Sie auch mit Düften machen, etwa mit kleinen Fläschchen mit Duftöl, Gewürzen, Blüten, Knoblauch, Teekraut etc. Bedenken Sie, dass die Nase ein empfindliches Organ ist, und testen Sie erst selbst, in welcher Intensität die Nasenschleimhäute den Duft ertragen und in welcher nicht, vor allem, wenn Kinder mitspielen.
Sie und Ihr Partner oder Ihre Partnerin tragen Gegenstände mit unterschiedlicher Oberflächenstruktur zusammen: einen Schwamm, Samt, Seide, Eiswürfel, Wärmekissen, Crème, Stahlwolle, eine weiche Bürste, Federn etc. Jeder versteckt seine Gegenstände – ohne dass der andere sie gesehen hat – in einem blickdichten Behälter, der nun an seiner Seite des Bettes steht. Einer liegt nackt auf dem Rücken (achten Sie darauf, dass es warm genug ist), der andere wählt einen Gegenstand und streichelt damit den Körper des anderen . Dieser muss raten, worum es sich handelt. Unnötig zu erwähnen, dass die Berührung mit rauhen oder harten Gegenständen nur sehr sanft sein darf.
Verbinden Sie einem Mitspieler die Augen und drehen Sie ihn im Kreis, bis er die Orientierung im Raum verloren hat. Die anderen Mitspieler müssen dabei mucksmäuschenstill sein. Nun führen Sie den Blinden durch den Raum. Ab und zu klopfen Sie an zwei bis drei Gegenstände, machen eine Schranktüre auf und zu oder klappern mit einem Gerät. Anhand der Geräusche muss der Geführte sich nun orientieren. Sobald er weiss, wo er ist, holt er sich einen neuen Mitspieler und führt nun seinerseits diesen umher.
Hören Sie Ihre Lieblingsstücke und achten Sie für einmal weniger auf die Melodie als auf das, was sie in Ihrem Körper auslöst: Schmetterlinge im Bauch? Eine Leichtigkeit in den Schultern? Warme Füsse? Ein Kribbeln auf der Kopfhaut? Lassen Sie sich überraschen, was Musik mit Ihrem Körper macht, wenn Sie ihm während des Hörens Ihre ganze Aufmerksamkeit schenken.
Am besten geht das in der Natur oder auch im Museum: Achten Sie mal nur auf Farben, nicht auf die Gegenstände oder Bilder an sich. Suchen Sie nach Farben, die Ihnen jetzt gerade guttun, entdecken Sie Farbkombinationen, die Sie begeistern, tauchen Sie ein in diese Farben, geniessen Sie sie. Was machen diese Farben mit Ihren Gefühlen? Was machen sie mit Ihrem Körper?
Was riechen eigentlich Waldtiere den ganzen Tag lang? Suchen Sie sich ein einsames Waldstück , sodass Sie sich unbeobachtet und hemmungslos dem Schnuppern hingeben können. Wie riecht Rinde? Riechen Sie den Unterschied zwischen einer Buche und einer Eiche? Graben Sie Ihre Nasenspitze in Moos, altes Laub, Erde und achten Sie darauf, mit welchen Gefühlen, inneren Bildern, Handlungsimpulsen, Erinnerungen und Körperempfindungen Ihr Organismus reagiert. Nehmen Sie jede Reaktion wohlwollend auf, egal, was es ist. Denken Sie daran: Alles, was Ihr Organismus in Ihr Bewusstsein bringt, könnte ein Selbstheilungsimpuls sein.
Sollte der Wald kein angenehmer Ort für Sie sein, so suchen Sie sich eine einsame Wiese oder ein Seeufer, gehen Sie in Ihren Garten oder Ihre Küche und machen Sie die übung dort.