Sport statt Pillen
Schon wenig Bewegung ist gesund. Und leichtes Training hilft gegen die grossen Zivilisationskrankheiten so gut wie Medikamente.
Am 31. März 2012 fand ein Polizist in den Bergen New Mexicos einen leblosen Körper. Die Medien berichteten gross über den Toten, denn es handelte sich um Micah True, einen der bekanntesten Marathonläufer der USA und Helden des Bestsellers «Born to Run». True war zu einer 20-Kilometer-Runde aufgebrochen. Für ihn keine grosse Sache: Der 58-Jährige lief seit Jahrzehnten Woche für Woche bis zu 150 Kilometer.
Für Bewegungsmuffel war nach Trues Ableben sofort klar: Sport ist Mord und süsses Nichtstun das Beste, was man sich antun kann – getreu Winston Churchills Devise: «No sports!» Pech nur, dass der britische Staatsmann das gar nie gesagt hat. Und dass Marathonläufer äusserst selten vor Erschöpfung tot umfallen. Woran also war True gestorben?
«Dass die Menschen zu viel Sport treiben, ist sicher kein Problem unserer Gesellschaft», sagt der Mediziner Brian Martin. Er leitet den Bereich Bewegung und Gesundheit am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Uni Zürich. Bis Sport gefährlich werde, sagt Martin, müsse man schon extrem viel machen. Und die Grenze, ab der man keinen gesundheitlichen Vorteil mehr daraus ziehen könne, liege bei einem zusätzlichen Energieverbrauch von 3000 bis 3500 Kilokalorien. Pro Woche mehr als 50 Kilometer zu joggen oder fünf Stunden zu schwimmen sei daher kaum sinnvoll.
Als Präventivmediziner hat es Martin aber nicht mit übermotivierten Extremsportlern zu tun. Er kämpft vor allem gegen die Schwerkraft, die schlaff macht. Trägheit ist der viertwichtigste Grund, warum Menschen vorzeitig sterben. Weltweit lassen sich jährlich 5,3 Millionen der 57 Millionen vorzeitigen Todesfälle auf Bewegungsmangel zurückführen. So viele sterben an Tabakkonsum oder Übergewicht.
Jede Steigerung der körperlichen Aktivität nützt der Gesundheit. Allerdings nimmt der Gewinn mit steigendem Trainingsniveau ab. Den grössten Nutzen dürfen Menschen erwarten, die kaum oder gar nicht aktiv waren.
Inaktivität ist schuld an: sechs Prozent der koronaren Herzerkrankungen, sieben Prozent der Fälle von Altersdiabetes sowie je zehn Prozent der Brustkrebs- und Darmkrebsfälle. Würden sich alle regelmässig bewegen, stiege die Lebenserwartung weltweit um acht Monate und fünf Tage, errechnete ein Forscherteam um Brian Martin.
In der Schweiz ist mangelnde körperliche Aktivität für mindestens 2900 vorzeitige Todesfälle, 2,1 Millionen Krankheitsfälle und Behandlungskosten in Höhe von 2,4 Milliarden Franken verantwortlich. Das sind grimmige Zahlen, denen Präventivmediziner Martin eine frohe Botschaft entgegensetzt: «Jeder Schritt aus der Inaktivität tut gut. Und je mehr man sich bewegt, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, von einem gesundheitlichen Nutzen zu profitieren».
Welchen Effekt gezieltes Training hat, wollten die beiden Forscher Huseyin Naci von der London School of Economics and Political Science und John Ioannidis von der Stanford-Universität genau wissen. Im Verlauf der letzten Jahre werteten sie dafür die Daten von 305 klinischen Studien aus, an denen insgesamt 340 000 Menschen teilgenommen hatten. Es war ein schwarzer Tag für die Pharmaindustrie, als die Resultate dieser Auswertung im «British Medical Journal» veröffentlicht wurden.
Denn Naci und Ioannidis konnten nachweisen, dass Sport genauso gut gegen eine Herz-Kreislauf-Erkrankung oder Altersdiabetes wirkt wie Pillen. Nach einem Schlaganfall erwies sich regelmässige Bewegung als den gängigen Medikamenten gar überlegen. Nur gegen Herzversagen wirkten Diuretika besser; diese Medikamente entwässern den Körper und entlasten so das Herz.
Weitergehende Aussagen seien nicht möglich, die Datenlage sei einfach zu schwach, sagen die beiden Forscher. Der Grund dafür liege in der Ausrichtung der Forschung. Ein Beispiel: Wie leichter Sport nach Schlaganfällen wirkt, wurde bei nur 227 Patienten untersucht, blutverdünnende Medikamente dagegen bei über 70'000. Für die beiden ist deshalb klar: «Die einseitige, auf Medikamente konzentrierte Forschung führt möglicherweise dazu, dass die effektivsten Therapien für Krankheitsbilder unerkannt bleiben, falls es sich dabei nicht um eine Behandlung mit Arzneimitteln handelt.» Zudem gehe immer wieder vergessen, dass körperliche Aktivität einen entscheidenden Vorteil gegenüber Medikamenten habe: Bewegung verursacht kaum unerwünschte Nebenwirkungen.
Präventivmediziner Martin warnt jedoch vor zu weitreichenden Folgerungen. Die Studie besage, dass Verhaltensänderungen eine mit Pillen vergleichbare Wirkung entfalten. Was sehr viel sei. «Man kann jetzt aber nicht hingehen und behaupten, regelmässige Bewegung ersetze eine etablierte Therapie. Medikamente bleiben ein wichtiger Teil der Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie von Altersdiabetes.»
Jede Bewegung tut gut – und sei sie noch so kurz und scheinbar unbedeutend. Deshalb lohnt es sich, den Alltag möglichst aktiv zu gestalten und zum Beispiel Treppen zu steigen, statt mit dem Lift zu fahren.
- Erwachsene sollten sich mindestens 2 1/2 Stunden pro Woche so bewegen, dass sie dabei etwas ausser Atem kommen. Denselben Effekt erreichen sie mit 1 1/4 Stunden Sport, bei dem man ins Schwitzen gerät. Ideal ist, seine Aktivitäten auf mehrere Tage zu verteilen.
- Ältere Menschen sollten sich so viel wie möglich bewegen, unabhängig davon, ob sie die Basisempfehlungen für Erwachsene erreichen. Jedes Mehr an Bewegung ist ein Gewinn.
- Jugendliche sollten sich 1 Stunde pro Tag bewegen, jüngere Kinder deutlich mehr. Empfehlenswert sind alle Aktivitäten, die die Knochen stärken, Herz und Kreislauf anregen, die Muskeln kräftigen, die Beweglichkeit erhalten und die Geschicklichkeit verbessern.
Grundsätzlich gilt: Ausdauer verliert mit steigendem Alter an Bedeutung. Bei älteren Menschen werden Krafttraining und Gleichgewichtstraining (Sturzprophylaxe) immer wichtiger. Das Krafttraining sollte man mit Gymnastik- oder Stretchingübungen ergänzen, um die Beweglichkeit zu verbessern.
Ulrich Bartmanns Patienten erscheinen zur Therapie in Jogginghose und Laufschuhen. Denn er legt Menschen, die unter Angstzuständen und Depressionen leiden oder sich überfordert fühlen, nicht auf die Couch und verschreibt ihnen auch keine Medikamente. Er geht mit ihnen laufen. Der emeritierte Professor ist Deutschlands bekanntester Lauftherapeut.
Bis Mitte 30 hatte Bartmann mit Jogging nichts am Hut. Dann las er in einer Fachzeitschrift eine Studie darüber, wie Alkoholkranke mit langsamem Dauerlauf ihre Ängste in den Griff bekommen. «Mumpitz», dachte der Psychologe.
Doch das Thema liess ihn nicht mehr los. Je tiefer er sich in die Literatur einlas, desto eindeutiger war der Befund: Ausdauertraining ist ein Stimmungsaufheller. Bartmann begann mit ersten Laufversuchen – heimlich während seiner Ferien. Als er es erstmals schaffte, fünf Minuten am Stück zu rennen, hatte er einen der bemerkenswertesten Momente seines Lebens: «Ich fühlte mich, als hätte ich eben die Welt erobert.»
Diese kleine Anekdote erzählt Bartmann jeweils zu Beginn seiner Lauftherapie. Als Mutmacher und zur Motivation. Seine viermonatige, unbegleitete Lauftherapie heile jeden dritten Patienten. Renne er mit, steige die sogenannte Remissionsrate sogar auf 45 Prozent. Damit entfaltet die Lauftherapie bei Depressiven eine Heilungswirkung, die mit einer klassischen Behandlung mit Psychopharmaka vergleichbar sei; ein Befund, der unter Wissenschaftlern und Therapeuten unbestritten ist.
Warum Rennen wie ein Antidepressivum wirkt, ist nicht restlos geklärt. Forscher führen die Wirkung auf Änderungen in der Funktionsweise des Hirns zurück. Bewegung erhöht die Ausschüttung des Glückshormons Endorphin und des Botenstoffs Serotonin, der dafür sorgt, dass die Nervenzellen im Hirn besser miteinander kommunizieren.
Bartmann bevorzugt eine andere Erklärung: «Gemeinsames Laufen löst viele psychische Mechanismen aus.» Es sei Balsam für das Selbstwertgefühl. Die Erfahrung, etwas zu schaffen, was man sich nicht zugetraut hätte, übertrage sich auch auf andere Lebenssituationen. So wachse der Mut, schwierige Probleme anzupacken. Die Patienten erlebten sich als handelnde Subjekte und nicht bloss als Objekte des Therapeuten.
Am besten wählt man eine, die grosse Muskelgruppen beansprucht; etwa Joggen, zügiges Velofahren, Schwimmen oder Skilanglaufen, aber auch das Herz-Kreislauf-Training an Fitnessgeräten. Ideal aber ist ein Mix aus verschiedenen Disziplinen.
Es ist weniger wichtig, was man tut, sondern dass man etwas tut. Anders ausgedrückt: Wählen Sie eine Sportart, die zu Ihnen passt. Denn wenn Ihnen Sport Spass macht, trainieren Sie öfter und halten länger durch.
Es sei auch nie zu spät, den ersten Schritt zu tun, sagt Präventivmediziner Brian Martin. «Gerade ältere Menschen profitieren enorm. Mehr Bewegung im Alltag macht sie nicht nur leistungsfähiger, sie sind ausgeglichener und bleiben länger selbständig.» Es ist, wie der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche vor über 100 Jahren schrieb: «Wer sich stets zu viel geschont hat, der kränkelt zuletzt an seiner vielen Schonung.»
Zudem macht Sport jung. Es ist die einzige nachweisbar wirksame Verjüngungskur, die ohne Pillen und Salben auskommt. Wie gross der Anti-Aging-Effekt ist, zeigten kürzlich kanadische Forscher, die eine Gruppe von über 65-Jährigen ein halbes Jahr in den Kraftraum schickten. Erwartungsgemäss stieg durch das Training die Muskelkraft der Senioren stark. Was die Forscher aber überraschte, war die Analyse der Gewebeproben, die man den Oberschenkeln der Senioren entnommen hatte: Ihre genetischen Werte hatten sich denen einer Vergleichsgruppe von 22-Jährigen angenähert. Das Training hatte auf die über 65-Jährigen gewirkt wie ein Jungbrunnen.
Verantwortlich dafür sind die Mitochondrien. Sie sind in der Zelle für die Erzeugung von Energie verantwortlich und versagen mit zunehmendem Alter ihren Dienst. Die Folge: Die betroffene Zelle stirbt ab. Viele Wissenschaftler sehen im Verlust der Mitochondrien eine wichtige Ursache für den Alterungsprozess. Wegen des Zelltods schrumpfen die Muskeln, reduziert sich das Hirnvolumen. Und irgendwann sieht man plötzlich alt aus – und fühlt sich auch so. Das Training konnte diesen Prozess rückgängig machen.
Das Problem dabei: Sport wirkt nur, wenn man dranbleibt. Wer bis 30 Ausdauersport treibt und dann aufhört, hat im Alter von 50 praktisch nichts mehr davon. Ausser dass die Knochen etwas stabiler geblieben sind.
Aber nicht alle sind daueraktiv oder gehen regelmässig ins Fitnessstudio wie die über 65-jährigen Kanadier. Was nicht weiter verwundert, denn der Homo sapiens ist von seiner Natur her wie geschaffen für ein faules Leben vor dem Rechner und dem Fernseher. Und das ausgerechnet weil eine lebensfeindliche Wildnis den Menschen während Jahrtausenden geformt hat: Der Mangel an Nahrung zwang ihn zu kräftezehrenden Streifzügen durch die Steppen, bei denen er beständig bereit sein musste zu Kampf und Flucht. In dieser Welt war Energieverschwendung tödlicher Luxus – und Faulsein überlebenswichtig.
Doch die stammesgeschichtlich erworbenen Eigenschaften wenden sich heute gegen uns. Die effizienten Fettspeicher, die Energie im Nu freisetzen, sind zum bleischweren Erbe geworden. Am schlimmsten ist die gelbliche Schwabbelmasse, die sich um die inneren Organe schmiegt und den Bauchumfang Jahr für Jahr vergrössert. Dieses Fett ist die Brutstätte von verschiedensten Botenstoffen, die über die Pfortader der Leber den Körper fluten und Entzündungen auslösen.
Auf Dauer kann die Belastung zu Diabetes und zu Gefässerkrankungen führen. So überrascht es nicht, wenn der US-Hormonspezialist James Levine sagt: «Sitzen tötet.» Beim ständigen Herumhocken setze man sich im Grunde selbst in den Sarg. Es waren seine eigenen Forschungsresultate, die den Amerikaner derart radikalisierten.
Levine hatte untersucht, was täglich sechs und mehr Stunden Sitzen beim Menschen anrichten. Das brutale Ergebnis: Bei Männern steigt die Sterberate um 20 Prozent, bei Frauen sogar um knapp 40 Prozent – im Vergleich zu den Kolleginnen und Kollegen, die nur halb so viel Zeit auf ihrem Allerwertesten verbringen.
Levines Erklärung: Längeres Sitzen lässt den Cholesterin- und Blutzuckerspiegel sowie den Blutdruck steigen. Zudem schüttet der Körper vermehrt das Appetithormon Leptin aus. Selbst der Gang ins Fitnessstudio helfe den Dauersitzern deshalb nur bedingt. Zwei Stunden körperliche Betätigung könnten die negative Wirkung von 22 Stunden Herumhocken nicht voll ausgleichen.
Levine ist deshalb zum begeisterten Anhänger von Fitnessgeräten am Arbeitsplatz geworden. So propagiert er «Gehtische»: Man steht am Pult, unter den Füssen aber läuft ein Rollband, das den Büromenschen zum gemächlichen Gehen zwingt. Levines Walk-and-work-Konstruktion kostet umgerechnet 1800 Franken. Es lohne sich, diesen Betrag auszulegen, beteuert der Wissenschaftler, denn die Produktivität steige deutlich.
Unerfreuliche Nebenwirkungen habe er bei den Tests nicht feststellen können. Es sei auch noch niemand vom Laufband gefallen. Kritiker bemängeln, Levines Resultate seien wohl wichtig, aber zu wenig breit abgestützt. Um konkrete Aussagen über das Risiko wegen des Dauersitzens abgeben zu können, sei es zu früh.
Wer möglichst rasch alt aussehen will, befolgt diese sieben todsicheren Tipps.
1. Rauchen Auf frisch geteerten Strassen fährt man besser. Warum soll für Blutbahnen falsch sein, was für Autobahnen stimmt? 5000 im Tabakrauch enthaltene Chemikalien befreien Sie schnell und dauerhaft von lästigen Gesundheitsgefühlen.
2. Fressen Futtern Sie, was immer Sie bekommen können. Wenn es gewichtsbedingt in den Gelenken so richtig kracht und nur die nächste Insulinspritze Sie vor dem Koma bewahrt, können Sie sicher sein, Ihrem natürlichen Alter in Riesenschritten voranzueilen.
3. Saufen Trinken Sie häufig und ohne jedes Mass. Wenn Sie von sich behaupten können, Sie hätten keinerlei Probleme mit Alkohol, sondern nur ohne, sind Sie auf dem richtigen Weg.
4. Abhängen Manche Yogis verharren jahrelang regungslos in derselben Position. Werden Sie Couch-Yogi! Würde Gott wollen, dass wir uns bewegen, hätte er weder Sofa noch Fernseher erschaffen.
5. Zweifeln Personen, denen man etwas bedeutet, verhindern, dass man sich selbst zerstört. Meiden Sie deshalb stabile, von wechselseitiger Wertschätzung getragene Beziehungen.
6. Ärgern Die Welt ist ein ständiges Ärgernis. Versuchen Sie nicht, diese Tatsache durch unangebrachte Gelassenheit zu verleugnen. Nur wer dauergestresst ist, beweist Realitätssinn.
7. Zurücklehnen Wer ständig dazulernen will, hat zuvor das Falsche gelernt. Vermeiden Sie diesen Fehler. Halten Sie ein Leben lang an Ihren Vorurteilen fest.
Auch Hausärzte sind im Kampf gegen die Bewegungsmuffel aktiv geworden. Etwa Ueli Grüninger, Geschäftsführer des Kollegiums für Hausarztmedizin in Bern. Als junger Arzt betreute er unzählige Patienten mit Übergewicht, Bluthochdruck und Altersdiabetes. Er verschrieb ihnen mehr Bewegung, weniger Alkohol, eine ausgewogene Ernährung und einen Rauchstopp. Der Erfolg war mässig.
Grüninger stellte zudem fest, dass erstaunlicherweise viele seiner Patienten von sich aus aufhörten zu rauchen, es aber trotz eingehender Beratung nicht schafften abzunehmen.
Eine Antwort auf sein Problem fand er, als eines Tages Nadine Meier (Name geändert) zu ihm in die Sprechstunde kam. Bei der schwer übergewichtigen Frau, die es knapp durch die Tür zur Praxis geschafft hatte, waren alle Therapien und Rezepte gescheitert. «Herr Doktor, ich glaube nicht, dass Sie bei mir etwas ausrichten können», sagte die 46-Jährige. «Ja, Frau Meier», antwortete Grüninger, «das glaube ich auch nicht. Das ist nämlich Ihr Job!»
Die Antwort sei einfach aus ihm herausgerutscht. Doch die Wirkung war erstaunlich: Innerhalb zweier Monate nahm Meier zehn Kilo ab. «Da staunen Sie, was in mir steckt!», sagte sie beim nächsten Termin. Daraus sollte Grüningers Leitprinzip seiner künftigen ärztlichen Tätigkeit werden: ein neues Verständnis der Arzt-Patient-Beziehung. Der Patient spielt die Hauptrolle, der Arzt steht ihm nur beratend zur Seite. «Jeder Mensch hat ein inneres Bedürfnis nach Gesundheit. Das Coaching bringt ihn dazu, aus eigenem Antrieb gesünder zu leben», sagt Grüninger.
Dieser Ansatz wurde in einem Pilotprojekt in 20 St. Galler Hausarztpraxen mit 1000 Patienten getestet. Das Resultat spricht für sich: Neun von zehn Patienten liessen sich auf das Coaching ein, vier von zehn setzten das von ihnen selbst erarbeitete Gesundheitskonzept erfolgreich um.
Auch die beteiligten Ärzte wie Patrick Scheiwiler aus Arnegg sind zufrieden: «Ich mache jetzt bessere Medizin.» Wann immer es möglich sei, schlüpfe er während der Sprechstunde in die Rolle des Gesundheitscoachs. «Das ist zeitintensiver als das Verschreiben von Medikamenten. Doch es steigert den Erfolg.»
In der Westschweiz sammelt man schon länger Erfahrungen mit ähnlichen Ansätzen. Dafür wurde das Programm Paprica entwickelt: Hausärzte lernen in vierstündigen Kursen, wie sie mit motivierenden Interviews ihre Patienten dazu bringen, mehr Verantwortung für sich zu übernehmen und zum Beispiel mit Sport zu beginnen. Auch hier sind die Ergebnisse vielversprechend.
Doch das reicht nicht, sagt Präventivmediziner Brian Martin. Auch andere Bereiche müsse man in die Gesundheitsförderung einbinden, etwa die Architektur und den Städtebau. So zeigten Studien, dass sich ein fehlendes Trottoir oder der Bau eines dichten Velowegnetzes direkt auf das Bewegungsverhalten auswirke. «Ich sehe gerade in städtebaulichen Verbesserungen grosses Potential», sagt Martin.
Denn moderne Städte waren lange Zeit eigentliche Bewegungskiller. Sie sind so angelegt, dass man nie weit gehen muss. Neue Häuser sind so gebaut, dass man von der Wohnung via Lift mit zwei Dutzend Schritten ins Auto in der Tiefgarage steigt. Einkaufszentren sind so gestaltet, dass der natürliche Weg gradlinig zur Rolltreppe führt. Bürobauten sind so konzipiert, dass man lieber den Lift nimmt, als im düsteren Treppenhaus hochzusteigen. Bus- und Tramnetz sind so organisiert, dass die Haltestellen bloss ein paar hundert Meter auseinanderliegen und man als Passagier möglichst wenig gehen muss. Gegen solche Fehlplanungen hilft nur eins: Füsse auf den Boden und raus aus dem Sessel!
Micah True übrigens – der Marathonläufer, dessen Leiche man in den Bergen von New Mexico fand – war nicht an Erschöpfung gestorben, sondern an plötzlichem Herztod. Trues Herz war gefährlich gross und stark vernarbt gewesen. Er hatte es unterlassen, immer wieder trainingsfreie Tage einzuschalten, an denen sich sein Herz hätte erholen können.