«Für wie blöd halten uns die SBB?»
Die Schweizerischen Bundesbahnen waren einst ein Zuhause. Ihr Schienennetz hielt das Land im Innersten zusammen. Jetzt setzen sie den guten Ruf aufs Spiel, findet Beobachter-Redaktor Peter Aeschlimann.
Veröffentlicht am 4. Juni 2018 - 15:29 Uhr,
aktualisiert am 4. Juni 2018 - 15:16 Uhr
Wenn ein Betrieb sparen muss, schlägt die Stunde der Wortakrobaten. Sie zünden rosa Nebelpetarden, um den Abbau als Aufbruch zu verkaufen: Weniger ist mehr! Das jüngste Beispiel liefern die SBB. Sie weichen künftig vom Grundsatz ab, dass im Fernverkehr stets zwei Zugbegleiter zum Einsatz kommen – obwohl Pöbeleien häufiger geworden sind.
Damit sich trotzdem niemand im Stich gelassen fühlt, heissen die Zugbegleiter neu Kundenbegleiter. Das suggeriert Nähe, ist aber Unfug. Wer auf Schienen von A nach B gelangen möchte, benötigt einen funktionierenden Zug und das Gefühl von Sicherheit. Das ist der Job des SBB-Personals. Für den Rest sorgt das Gegenüber, ein gutes Buch oder die vorbeiziehende Landschaft. Man kommt nicht umhin zu fragen: Für wie blöd halten uns die SBB?
«Mein Zeit-Management geht euch nichts an. Sorgt einfach dafür, dass ihr pünktlich seid.»
Peter Aeschlimann, Beobachter-Redaktor
Der Slogan «Der Kluge reist im Zuge» scheint jedenfalls vergessen. Die aktuellen Werbeplakate für die SBB-App lassen keinen anderen Schluss zu. Im Stil einer schnoddrigen Discounter-Kampagne verhöhnt uns da eine streng dreinblickende Buchhalterin: «Sie wollen das Billett nicht mit der App kaufen? So viel Zeit hätte ich auch gerne.»
Mit Verlaub, liebe SBB: Mein Zeitmanagement geht euch noch weniger an als meine Daten . Sorgt einfach dafür, dass ihr pünktlich seid! Sonst kommt es nämlich vor, dass eure App den Ticketkauf für eine S-Bahn verweigert, die zwar noch nicht eingefahren, gemäss digitalem Kursbuch aber längst über alle Berge ist.
Ebenso ärgerlich ist das ständige Einloggen. In der Zeit, die ein erwachsener Mensch mit durchschnittlich dicken Fingerkuppen benötigt, um Benutzername und Passwort auf dem Smartphone einzutippen, löst man locker drei Tickets am Automaten.
Ausserdem gibt es immer noch ein paar Nostalgiker, die den persönlichen Kontakt höher schätzen als die Interaktion mit einem Computerprogramm. Für sie steht das Anstehen am Schalter für das erste Kapitel einer romantischen Zugreise.
Früher war nicht alles besser – das Image der SBB schon. Es gab da mal ein Plakat, das ein küssendes Pärchen auf dem Perron zeigte. Auf dem blauen SBB-Schild stand «Anfang». Das Bild war so schön, dass es sogar lange Zeit in unserer Studenten-WG hing. Oder dann der Song «Welcome Home», ein wunderbar kitschiger Ohrwurm, der Sehnsüchte weckte vom Verreisen und Heimkommen. Die SBB waren ein Zuhause, die SBB waren dort, wo man hingehörte.
Heute lesen wir von Plänen, das GA abzuschaffen. Von verlotternden Zugtoiletten . Vom Bier in den SBB-Restaurants, das sagenhafte Fr. 6.40 kostet. Und von Zugbegleitern, die – verständlicherweise – keine Kundenbegleiter sein wollen. Kurz: Die stolzen SBB sind auf eine schiefe Bahn geraten.
Das ist ein grosses Problem. Denn das Schienennetz der SBB bildet ein Geflecht, das die Schweiz im Innersten zusammenhält. Ob Jung oder Alt, Hipster oder Landei: Das Halbtax-Abo ist unser kleinster gemeinsamer Nenner. Gerade weil wir die SBB so lieben, verzeihen wir ihnen nichts. Und wenn nun die Verantwortlichen im Schnellzugstempo Sympathien verspielen, möchten wir am liebsten die Notbremse ziehen.
In den vierziger Jahren erschien das Kinderbuch «Alois» – die «heitere und lehrreiche Geschichte» von einem Buben, der Zugführer werden wollte. Dem kleinen Aloisli hatten es speziell die schwere Tasche des Kondukteurs angetan und die Zange zum Lochen der Fahrkarten. Nach harten Lehrjahren bei der Eisenbahn und vielen lustigen Abenteuern gelangt er ans Ziel seiner Träume: Er bekommt einen zweiten Streifen auf die Mütze und am Kragen einen zweiten Stern. Alois ist Zugführer geworden. Nicht Senior Kundenbegleiter.
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