Die Not mit der Notdurft der Zugreisenden
Sie gehören zu einem Zug wie das Ticket zum Passagier: Toiletten. Sind diese unbenutzbar und ist innert nützlicher Frist kein Halt geplant, wird die Notdurft zum Notfall.
Veröffentlicht am 25. April 2018 - 13:32 Uhr,
aktualisiert am 25. April 2018 - 11:46 Uhr
Das kennen alle Reisende: Stetig mehr drückt die Blase und wenn es ganz dick kommt, gar der Darm. Welche Erlösung, wenn schnell ein stilles Örtchen aufgesucht werden kann. Welche Qual, wenn zuerst eine Toilette gesucht werden muss. Ein Horror, wenn das einzige Klo nicht in Betrieb ist und der Zug erst nach über 20 Minuten wieder hält.
Ist das Schwarzmalerei oder ein echtes Problem der SBB ? Eine Zählung auf einer Fahrt zwischen 7.30 und 8 Uhr ergab, dass zwischen Langenthal und Zürich das einzige stille Örtchen, das zur Verfügung stand, neun Mal aufgesucht wurde. Vier Tage später wurde das Klo im selben Zeitraum acht Mal benutzt. Bei drei von neun Fahrten war die Toilette ausser Betrieb.
Die Erfahrung, dass Zugtoiletten oft besetzt oder gar unbenutzbar sind, machten schon fast alle spontan befragten Zugsreisenden. Auch Martin Bracher, der regelmässig zwischen Bern und Zürich pendelt, vermisste bereits freie Toiletten im Zug. «Ich ging dann so schnell wie möglich im Hauptbahnhof zu den WC-Anlagen von Mc Clean. Der Toilettenmangel ist wirklich mühsam.»
Vier von vier zufällig ausgewählten Zugbegleitern bestätigten, dass sie immer wieder mit dem Problem unbrauchbarer Toiletten konfrontiert seien. Das Zugpersonal könne notfalls einen ausserordentlichen Halt einlegen, versicherten drei von vier. Dafür den richtigen Ort zu finden, sei aber schwierig, viele Bahnhöfe hätten keine öffentlichen Toiletten mehr.
Nicht nur unbrauchbare Toiletten seien ein Problem, sondern generell die Anzahl stiller Örtchen auf Schienen. Zugbegleiter erklärten, es sei schon vorgekommen, dass sich ein Lokführer geweigert habe loszufahren, weil alle Toiletten ausser Betrieb waren. Die entsprechende Zugverbindung sei dann ausgefallen. Die Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV kann auf Anfrage nicht sagen, wie oft das Personal Passagiere wegen fehlender Toiletten betreuen muss.
Früher verfügten alle Waggons über eine Toilette und waren so miteinander verbunden, dass Reisende durch den gesamten Zug gehen konnten. Heute hat ein Zug mehrere Einheiten jeweils aus Triebwagen, Führerstand und Passagierzonen sowie einer Toilette im Nahverkehr oder zwei im Fernverkehr. Der Zug ist nicht mehr durchgängig begehbar.
Auf die Frage, warum beispielsweise auf der Strecke Bern-Zürich Wagenkombinationen eingesetzt werden, die nur eine Toilette haben, antwortete Reto Schärli, Mediensprecher der SBB. «Nur zu Randzeiten sind im Fernverkehr kurze Kompositionen mit nur einer Toilette unterwegs.» Und bei Strecken mit einer durchschnittlichen Reisedauer von 20 Minuten sei es zumutbar, eine Toilette pro 100-Meter-Komposition anzubieten. Eine solche Komposition kann bis zu 540 Personen befördern.
Zurzeit sind in den Zügen der SBB insgesamt 2716 WCs unterwegs, davon sind 281 offene Systeme (Plumpsklo), von den 2435 geschlossenen Systemen sind 1375 mit einem Bioreaktor ausgerüstet und 1060 mit einem Fäkalientank. Das Unternehmen investiert gemäss seiner Webseite jedes Jahr 10 Millionen Franken allein in die Instandhaltung der geschlossenen WC-Systeme, mit denen die Anforderungen des Gewässer- und Umweltschutzes erfüllt werden. «Die Verfügbarkeit der Toiletten ist auf einem stabilen, hohen Niveau von 97,2 Prozent im Fernverkehr und 98,5 Prozent im Regionalverkehr.»
Laut SBB landen in den Klos auch Sachen wie Kreditkarten, Portemonnaies oder Spielzeugautos und immer wieder werden die Klos durch Papierrollen verstopft. Reisende sollen sich bei Problemen an das Zugpersonal wenden. Weiter gibt es bei jeder Toilette eine Notsprechanlage. Allfällige Defekte oder Verschmutzungen können auch via Mobile-App gemeldet werden.
Wie oft es im vergangenen Jahr auf dem Schienennetz zu ausserplanmässigen Halten respektive Verspätungen wegen defekter Toiletten kam, konnten die SBB nicht beantworten. Schärli: «Konkret ist uns ein Fall bekannt. Weil in einem Zug wegen eines leeren Wassertanks kein WC zur Verfügung stand, begleitete das Zugpersonal einen Reisenden auf die Personaltoilette am Zürcher Hauptbahnhof. In der Zwischenzeit füllte ein Techniker den Tank auf. Der Zug traf trotzdem pünktlich am Ziel ein.» Er rät den Fahrgästen, sich bei Problemen mit Toiletten an das Zugpersonal zu wenden.
Ist die Not mit der Notdurft im Zug also kein dickes Problem der SBB? «Doch! Das ist wirklich eine absolute Sauerei», ärgert sich Marcel Burlet, Sekretär der Vereinigung Pro Bahn, die sich für die Kundschaft des öffentlichen Verkehrs einsetzt. Das mangelnde Toilettenangebot der SBB beweise den stetigen Abbau des Service Public. «Die SBB setzen nicht nur zwischen Zürich und Bern, sondern beispielsweise auch zwischen Zürich und Chur Fahrmaterial ein, das für den Nahverkehr beschafft wurde», sagt Burlet. Dadurch stünden den Fahrgästen weniger Toiletten zur Verfügung.
Viele Passagiere würden sich gar nicht mehr beschweren, aus Frust, weil das doch nichts nütze. Viele hätten resigniert, den schleichenden Abbau hingenommen. Zwar betreffe nur etwa jede zehnte Klage, die bei Pro Bahn eingeht, die Zugtoiletten. «Aber wer sich umsieht, merkt schnell, wie gross das Problem ist», so Burlet.
Vor allem Familien seien betroffen. «Wenn ein Kind sagt, es muss aufs Klo, dann muss es jetzt aufs Klo und nicht erst in 15 oder je nachdem in 50 Minuten», weiss Lehrer und Grossvater Burlet. Gerade sonntags beobachte er in Regionalzügen vor den Toiletten immer wieder längere Kolonnen mit Kindern, die Angst hätten, sich gleich in die Hose zu machen. «Das ist kein entspannter Ausflug und kein Anreiz, mit dem Zug zu reisen.»
Wer Gruppenreisen mit dem Zug veranstaltet, wie etwa Lehrpersonen oder Vereine, tue gut daran, einen Aufenthalt in einem Restaurant in der Nähe des Bahnhofs einzuplanen, um nicht in Bedrängnis zu geraten. Oder der Organisator müsse viel Kleingeld dabeihaben, um den Besuch der Bahnhofstoiletten zu ermöglichen. «Dabei gehört das Toilettenangebot eigentlich zum Service, den man sich mit einem Bahnbillet kauft», sagt Marcel Burlet. Er ruft die Fahrgäste dazu auf, ihren Ärger beharrlich den SBB zu melden. Und sich auf jeden Fall an die Vereinigung Pro Bahn zu wenden (sekretariat@pro-bahn.ch).
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