Heikle Nuckel-Beutel
Fruchtmus aus dem Quetschbeutel schmeckt Kindern und ist praktisch. Doch das Produkt ist nicht ganz unbedenklich.
Veröffentlicht am 27. Mai 2020 - 17:02 Uhr
Früchte sind gesund. Für Kleinkinder genauso wie für Erwachsene. Die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung empfiehlt als «Durchschnittswert zur Orientierung» für einjährige Kinder pro Tag 120 Gramm Obst, für zwei- bis dreijährige 150 Gramm.
Dafür scheinen die Quetschbeutel wie gemacht. «Ab 1 Jahr», wirbt etwa Hipp, ein bekannter Schweizer Hersteller von Babynahrung . Je nach Anbieter hat das Produkt rund 100 Gramm Inhalt: hauptsächlich Früchte, teilweise als Beigabe etwas Gemüse, Getreide, Joghurt. Nur ein Beutel deckt demzufolge fast den täglichen Fruchtbedarf des Kleinkindes.
Das Angebot entspricht dem Zeitgeist: gesund, schnell – und praktisch für mobile Familien. «Die Nachfrage nach Quetschbeuteln ist stark gestiegen in den letzten zwei Jahren», bestätigt die Migros. Kunden würden es schätzen, ihren Kindern Früchte und Gemüse konsumfertig anbieten zu können. Auch Coop stellt eine deutlich gestiegene Nachfrage fest. Hipp schreibt: «Wir sind dem Verbraucherwunsch nach einer leichten und bruchsicheren Verpackungsform gefolgt.» Ein Convenience-Lebensmittel, das sich für den Stressfall eignet, im Alltag jedoch nicht die erste Wahl sein sollte.
Zu viel des Guten? Hipp selber warnt auf den Quetschbeuteln, dass häufiges und dauerndes Umspülen der Milchzähne mit Fruchtpüree Karies verursachen kann. «Wir empfehlen deshalb, das Produkt mit dem Löffel an die Kinder zu geben.» Es gehe auch um eine Sensibilisierung der Eltern, einem schnellen und unkontrollierten Konsum entgegenzuwirken, heisst es auf Anfrage. Andere Hersteller empfehlen die Löffelvariante ebenfalls. Denn auch «ohne Zuckerzusatz» enthält der Fruchtbrei von Natur aus relativ viel Zucker sowie Säure. Zudem sollte man darauf achten, dass keine weitere Süsse aus Saftkonzentrat hinzugegeben wurde (worauf Hipp laut eigenen Angaben verzichtet).
Grundsätzlich seien Gemüse und Früchte für die Zahngesundheit eher unproblematisch, schreibt die Schweizerische Zahnärzte-Gesellschaft (SSO). Aber: «Auch bei Obst gilt: Zu viel ist ungesund.» Grund seien die Säuren der Früchte, die den Zahnschmelz angreifen. Wenn das Obst in roher Form gekaut werde, rege das den Speichelfluss mehr an als bei püriertem Obst. Speichel spüle den Fruchtzucker weg und remineralisiere den Schmelz. Es sei empfehlenswert, nach dem Verzehr eines Breis aus dem Beutel den Mund mit Wasser zu spülen.
Wenn ein Quetschbeutel über einen längeren Zeitraum genuckelt und der Mund danach nicht ausgespült wird, schadet das der Zahngesundheit des Kleinkinds. Gibt es weitere gesundheitliche Nachteile? Könnten die süssen Beutel gar Diabetes bei Kleinkindern begünstigen?
Christian P. Braegger, Leiter der Abteilung Gastroenterologie und Ernährung am Kinderspital Zürich, verneint: «Generell ist bei Kleinkindern kein Anstieg des ernährungsassoziierten Typ-2-Diabetes festzustellen, und die Quetschbeutel stehen diesbezüglich in keinem Zusammenhang.» Er verstehe zwar nicht, wieso man nicht einfach einen Apfel oder eine andere saisonale Frucht für unterwegs einpacken könne. «Die Fruchtbeutel», so Braegger, «sind aber für Kleinkinder sicher besser als ein hoch prozessiertes Lebensmittel mit einem hohen Zucker- und Fettanteil.» Vor allem von solchen Produkten rät der Facharzt ab. Allerdings sollte auch der Quetschbeutel, sogar gemäss Herstellerhinweis, als Dessert oder als Teil einer Zwischenmahlzeit betrachtet werden.
Wenn Eltern das Mus selber pürieren, verzichten sie auf die Nachteile der Beutel und können viele Vorteile hinzufügen: zuckerreiche durch zuckerärmere Früchte wie Beeren ersetzen, mehr grünes Gemüse beigeben, Arten und Sorten variieren und das saisonale Angebot nutzen. «Bei Obst empfehle ich, verschiedene Sorten auszuprobieren – und nicht nur oder ständig zuckerreiche Sorten zu essen», schreibt Marianne Falck, Autorin des Buches «Zuckerfrei von Anfang an».
Hinzu kommt, dass kaum eine Geschmacksvariante der Quetschbeutel Gemüse enthält. Obwohl genau das wichtig wäre. Laut Erhebungen essen Kleinkinder die empfohlene Menge an Früchten meist ohnehin, bei Gemüse hingegen nur etwa die Hälfte. Die Geschmackspräferenz «süss» zeigt sich bereits ab Geburt.
In ein Glas abgefüllt, eignet sich das selbst hergestellte Mus genauso für unterwegs und ist erst noch wesentlich günstiger: 100 Gramm Quetschbeutel-Inhalt kosten je nach Marke und Sorte zwischen Fr. 1.50 und 2.40, gut drei- bis viermal so viel wie frisches Obst. Obendrein zahlt sich das auch für die Umwelt aus, weil der unnötige Abfall entfällt (die Verbundverpackung besteht aus verschiedenen Kunststoffen sowie Aluminium).
Falls einmal die Zeit zum Selbermachen fehlt oder das Kind partout keine Früchte essen mag, kann ein Quetschbeutel im Einzelfall praktisch sein. Ansonsten ist er unnötig.
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