EU schränkt Entschädigungen ein – und die Schweiz?
Europas Bahnen können neu Ansprüche von Fahrgästen ablehnen. Was sagen SBB und Co. dazu?
Veröffentlicht am 14. Juni 2023 - 15:07 Uhr
Wenn Zugpassagierinnen nicht oder viel zu spät ankommen, können sie vom Bahnunternehmen eine Entschädigung fordern . Die Grundlage ist eine EU-Verordnung, die die Schweiz grösstenteils übernommen hat. Per 7. Juni 2023 hat die EU-Kommission die Verordnung geändert. Neu können Bahnunternehmen unter Umständen eine Entschädigung verweigern.
Gerichte müssen Klarheit schaffen
Die Höhe der Entschädigungen bleibt gleich. Das Bahnunternehmen kann aber eine Zahlung verweigern, wenn es beweist, dass ein aussergewöhnlicher Umstand schuld an der Verspätung ist. Aussergewöhnlicher Umstand heisst: Es passiert etwas, worauf die Bahn keinen Einfluss nehmen kann. Dazu gehören zum Beispiel eine extreme Witterung, Naturkatastrophen, Notfälle im Zug oder Menschen auf den Gleisen.
Ein gewöhnliches Unwetter reicht aber zum Beispiel nicht aus – und es genügt auch nicht als Grund, wenn das Bahnpersonal streikt. Die dehnbaren Begriffe wie «extreme Witterung» können unterschiedlich interpretiert werden. Es wird wohl die Aufgabe der Gerichte sein, mehr Klarheit zu schaffen. Ausserdem müssen Passagiere neu innerhalb von drei Monaten beim Bahnunternehmen reklamieren. Bisher hatten sie dafür ein Jahr Zeit.
Es gibt aber auch passagierfreundlichere Neuerungen: Menschen mit Behinderung muss auch bei Regionalzügen beim Ein- und Aussteigen geholfen werden. Bisher war das nur bei Fernzügen der Fall. Sie müssen die Hilfe zudem nicht mehr mindestens 48 Stunden, sondern 24 Stunden vorher anmelden.
Gilt das alles auch für die Schweiz?
Unsicher ist, ob die Neuerungen seit dem 7. Juni auch in der Schweiz gelten. Mehrere vom Beobachter angefragte Reiserechts-Fachleute konnten dies nicht klar beantworten. «Die Schweizer Transportunternehmen übernehmen die angepassten Bestimmungen, da die Vorgaben der EU-Kommission grundsätzlich auch für die Schweiz verbindlich sind», sagt Susanna Wittwer Klingler, Verantwortliche Kommunikation von Alliance Swisspass. Das Bundesamt für Verkehr relativiert und sagt, die Schweiz prüfe die neuen Vorgaben der EU. Es sei davon auszugehen, dass die Schweiz die Neuerungen übernehmen werde. Beide Seiten sind sich jedoch einig, dass ein definitiver Entscheid noch ausstehe.
Wenn ein Schweizer Verkehrsbetrieb keine Entschädigung zahlen will und auf die geänderte EU-Verordnung verweist, können Konsumentinnen und Konsumenten argumentieren, sie gelte noch gar nicht hierzulande. Dann müsste das Unternehmen nachweisen, dass die neuen Bestimmungen gelten – und sich mit den schwierigen Rechtsfragen herumschlagen.
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