Sozialversicherungen sollen wieder Detektive einsetzen dürfen, um die Versicherten zu überwachen. Das ist das Ziel, das die Änderung des Bundesgesetzes zum Sozialversicherungsrecht verfolgt. Weil ein Komitee aus Privatpersonen dagegen das Referendum ergriffen hat, kommt es am 25. November zur Volksabstimmung.

Was erlaubt das Gesetz neu?

Die Sozialversicherungen sollen Versicherte observieren dürfen, wenn sie einen begründeten Verdacht haben, dass diese missbräuchlich Leistungen beziehen. Die Detektive der Versicherungen sollen dann das Recht erhalten, Ton- und Bildaufnahmen der Verdächtigen zu machen. Anordnen dürfen eine solche Observation in erster Linie Geschäftsleitungsmitglieder der Versicherungen. Wollen die Versicherungen für die Überwachung auch GPS-Tracker einsetzen, um die Verdächtigen zu orten, brauchen sie dafür die Genehmigung durch einen Richter.

Partnerinhalte
 
 
 
 
Wie entstand das neue Gesetz?

Die Invalidenversicherung und die Unfallversicherung setzten bereits in der Vergangenheit sogenannte Sozialdetektive ein. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und später auch das Bundesgericht kamen jedoch zum Schluss, dass die Versicherungen dafür keine ausreichende gesetzliche Grundlage haben Urteil Gerichtshof für Menschenrechte bremst Versicherer . Das Schweizer Parlament passte diesen Frühling deshalb das entsprechende Bundesgesetz an.

Streit um Auslegung

Wie selten sonst, widersprechen sich Gegner und Befürworter dabei, was mit dem neuen Gesetz erlaubt ist. Die Gegner kritisieren, es sei unsorgfältig formuliert Sozialdetektive «Observationen werden Tür und Tor geöffnet» – und lasse deshalb zu viel Interpretationsspielraum offen. Die wichtigsten Streitfragen sind:

Dürfen Detektive in die Wohnung filmen?
  • Im Gesetz heisst es:
    Eine verdächtige Person darf nur observiert werden, wenn sie sich entweder an einem allgemein zugänglichen Ort befindet; oder an einem Ort, der von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar ist.
  • Die Gegner sagen:
    Diese Formulierung erlaubt, dass Detektive auch in die Wohnung hinein filmen. Zum Beispiel, wenn der Detektiv von einer Strasse aus in ein Schlafzimmer filmt, dessen Vorhänge nicht zugezogen sind. Um sich vor einer Überwachung in ihrer eigenen Wohnung zu schützen, müssen Versicherte penibel darauf achten, dass man von öffentlichen Räumen aus nicht in ihre Räume sehen kann.
  • Der Bundesrat sagt:
    Aufnahmen der Innenräume eines Hauses sind verboten. Denn diese Räume gehören zur Privatsphäre, die durch die Rechtsprechung des Bundesgerichts geschützt ist. Erlaubt ist hingegen die Überwachung von Personen, die sich auf ihrem Balkon oder im Garten aufhalten – aber nur, wenn der Detektiv von einem öffentlichen Ort darauf Einblick hat, zum Beispiel von einer Strasse oder einem Park aus.
  • Das sagt Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Uni Zürich:
    «Die Formulierung ist sehr offen gehalten. Man hätte beispielsweise schreiben können, dass nur der Aussenbereich von Wohnräumen von einem allgemein zugänglichen Ort aus observiert werden dürfe. Der Gesetzgeber hat aber bewusst auf solche Klärungen verzichtet. Damit ist der sehr unbestimmte Wortlaut der Ausgangspunkt für die künftige Praxis. Zu behaupten, dass die Gerichte hier Aufnahmen in den Innenraum nicht verwerten würden, ist darum reine Spekulation.»
Rechtsratgeber
Checkliste «Observation durch Sozialversicherung»

Wie dürfen Behörden der Sozialversicherungen zum Beispiel IV-Rentner überwachen? Was rechtlich erlaubt ist und was nicht, erfahren Sie als Beobachter-Mitglied in der Checkliste «So darf Sie die Versicherung überwachen».

Ist der Einsatz von Drohnen erlaubt?
  • Im Gesetz...
    ... werden Drohnen nicht erwähnt. Es heisst nur: «Der Versicherungsträger kann eine versicherte Person verdeckt observieren und dabei Bild- und Tonaufzeichnungen machen. … Der Einsatz von technischen Instrumenten zur Standortbestimmung ist genehmigungspflichtig.»
  • Die Gegner sagen:
    Mit dem neuen Gesetz können Detektive auch Drohnen einsetzen. Eben weil diese nicht explizit verboten sind. Eine Versicherung könnte argumentieren, der Luftraum über einem Park sei auch öffentlich. Ein Detektiv und von dort aus könnte sie dann mit einer Drohne Datenschutz Wann darf man Drohnen abschiessen? den Balkon eines Hauses in einem oberen Stockwerk observieren, oder eben gar die Innenräume.
  • Der Bundesrat sagt:
    Der Einsatz von Drohnen ist nicht gestattet. Der Luftraum ist kein öffentlich zugänglicher Ort, wie es der Gesetzestext verlangt.
  • Das sagt Rechtsexperte Thomas Gächter:
    «Man muss unterscheiden, zu welchen Zwecken Drohnen eingesetzt werden sollen, zur Standortbestimmung oder zur Überwachung: Für die Standortbestimmung ist eine gerichtliche Anordnung erforderlich, was den Einsatz dieser Mittel einschränken kann. Wenn es um den Einsatz von Drohnen für die Überwachung geht, scheint mir die Lage weniger eindeutig zu sein, als der Bundesrat sagt. Der Luftraum über einem öffentlich zugänglichen Ort ist durchaus öffentlich zugänglich, soweit er auch sonst benutzt werden kann – beispielsweise durch eine in die Höhe gestreckte Kamera oder eine tief fliegende Drohne. Bisher verwendeten Gerichte Observationsergebnisse, obwohl es gar keine rechtliche Grundlage dafür gab. Es ist daher anzunehmen, dass sie künftig auch Observationsergebnisse verwerten werden, die mithilfe von Drohnen gemacht wurden, solange kein explizites Verwertungsverbot für solche Beweismittel besteht.»
Was ist mit Wärmebildkameras und Richtmikrofonen?
  • Die Gegner sagen:
    Nur für den Einsatz von Ortungsgeräten wie GPS-Tracker braucht es eine richterliche Verfügung. Den Gebrauch von anderen Hilfsmitteln wie Wärmebildkameras oder Richtmikrofonen schränkt das Gesetz nicht explizit ein.
  • Der Bundesrat sagt:
    Es ist verboten, technische Geräte einzusetzen, die die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit wesentlich verstärken. Das hat das Parlament klar zum Ausdruck gebracht. Zu solchen Geräten gehören Wärmebildkameras, Nachtsichtgeräte, Richtmikrofone und eben auch Drohnen.
  • Das sagt Rechtsexperte Thomas Gächter:
    «Aus dem Bericht der ständerätlichen Kommission ergibt sich tatsächlich: Es sollen keine Geräte eingesetzt werden dürfen, welche die menschliche Wahrnehmung wesentlich verstärken. Nur: Wenn in der Vergangenheit Sozialdetektive Bildaufnahmen anfertigten, kamen fast immer Teleobjektive zum Einsatz. Und die Gerichte verwendeten diese. Die menschliche Wahrnehmung wird damit bereits sehr weit verstanden. Das muss einem bewusst sein. Es wäre darum sinnvoll gewesen, die entsprechende Klärung bereits im Gesetz ausdrücklich festzuhalten.»
Was Sozialdetektive bewirken

Die Invalidenversicherung und die Unfallversicherung haben bereits zwischen 2009 und 2017 Sozialdetektive eingesetzt. Bei der IV haben 2017 über 430’000 Personen eine Leistung bezogen. In 2130 Fällen hatte die Versicherung den Verdacht auf Missbrauch, bei 210 Personen führte sie eine Observation durch. In 170 Fällen konnte die Versicherung dadurch einen unrechtmässigen Bezug von IV-Geldern nachweisen.

Gemäss einem Bericht des Bundesamts für Sozialversicherungen sparte die IV damit rund 60 Millionen Franken an Rentenleistungen (berechnet auf Basis eines durchschnittlichen Betrages einer IV-Rente und einer Bezugsdauer bis zum ordentlichen AHV-Rentenalter). Im Vergleich dazu hat das BSV 1,3 Millionen Franken für Observationsmassnahmen im Jahr 2017 ausgegeben.

Für den Bundesrat ist damit bewiesen, dass Sozialdetektive nützen, Missbrauch zu bekämpfen. Die Einsparungen seien dabei nicht einmal das Wichtigste. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Sozialversicherungen beruhe darauf, dass nur jene eine Leistung erhalten, die darauf auch einen Anspruch haben. Es sei die Pflicht der Sozialversicherungen, dies sicherzustellen.

Die Gegner hingegen sagen, Sozialversicherungsbetrug zu verfolgen, sei Aufgabe von Polizei und Justiz Sozialdetektive Bald mehr Macht als die Polizei . Diese hätten die notwendigen Mittel dazu, und wie sie dabei vorgehen dürften, sei klar geregelt. Die Versicherungen hingegen könnten mit dem neuen Gesetz Überwachungen nach eigenem Gutdünken durchführen. Das schrecke die Menschen davon ab, ihre Leistungen einzufordern – auch solche, die es bitter nötig hätten. Wer durch einen Unfall verletzt oder krank sei, müsse damit rechnen, dass er seine Privatsphäre opfern müsse, um die Leistungen zu bekommen, die ihm zustünden.

Der Bundesrat widerspricht: Das neue Gesetz gebe den Versicherungen klare Regeln vor. So brauche es für eine Observation einen begründeten Verdacht. Ausserdem sei sie nur dann gestattet, wenn andere Mittel nicht reichten, um herauszufinden, ob ein Missbrauch vorliege. Weiter müssten die Versicherungen die Betroffenen informieren, dass sie observiert worden sind. Diese können die Rechtmässigkeit einer Observation vor Gericht anfechten.

Sozialhilfebezüger sind nicht betroffen

Die neuen Regeln zur Observation sollen für folgende Versicherungen gelten:

  • Invalidenversicherung
  • Unfallversicherung (nur obligatorische Versicherung)
  • Arbeitslosenversicherung
  • Krankenversicherung (ohne Zusatzversicherung)
  • Ergänzungsleistungen
  • Alters- und Hinterlassenenversicherung
  • Erwerbsersatz für Dienstleistende
  • Mutterschaftsversicherung
  • Familienzulagen


Der Bundesrat sagt: Die Observationen sind nicht für alle diese Versicherungen gleich relevant. In der Vergangenheit haben nur die IV und die UV observiert. Keinen Einfluss hat das Gesetz auf die Observation von Sozialhilfebezügern. Die Sozialhilfe ist Sache der Kantone und Gemeinden und im dortigen Recht geregelt.

Rechtsratgeber
Bundesgerichtsentscheide «Abklärungen durch die IV» bei Guider

Beobachter-Mitglieder sehen in einer Auflistung von realen Fällen, wie das Bundesgericht bei strittigen Abklärungsverfahren der Invalidenversicherung über einen Leistungszuspruch entschieden hat.

Jede Woche das Beste vom Beobachter
«Jede Woche das Beste vom Beobachter»
Raphael Brunner, Redaktor
Der Beobachter Newsletter