Zwei Familienmodelle prallen aufeinander
Wie Familien funktionieren sollten – davon haben Gegner und Befürworter eines zweiwöchigen Vaterschaftsurlaubs sehr unterschiedliche Vorstellungen. Am 27. September zeigt sich, welche mehrheitsfähig sind.
Veröffentlicht am 4. September 2020 - 15:28 Uhr,
aktualisiert am 9. September 2020 - 13:34 Uhr
Ursprünglich wurde eine Initiative für 4 Wochen Vaterschaftsurlaub eingereicht, doch Bundesrat und Parlament lehnten sie als zu teuer ab. Der indirekte Gegenvorschlag sah nur noch 2 Wochen vor und wurde von den Initianten akzeptiert. Weil SVP-Politikerinnen und Jungfreisinnige dagegen aber das Referendum ergriffen haben, stimmen wir am 27. September über 2 Wochen Vaterschaftsurlaub ab.
Dabei kommt das Wort «Vaterschaftsurlaub» in der Abstimmungsfrage gar nicht vor, sondern man soll entscheiden, ob man einer Änderung des Erwerbsersatzes zustimmt. Ein «Ja» auf diese Frage bedeutet, dass man für einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub ist.
Bei der Abstimmung prallen gegensätzliche Familienbilder aufeinander. Die Befürworter eines Vaterschaftsurlaubs wollen einer veränderten Aufgabenverteilung Rechnung tragen und diese fördern. Genau das lehnen die Gegner ab: Wie sich Familien organisieren, gehe den Staat nichts an.
Bisher gibt es keinen gesetzlichen Vaterschaftsurlaub . Das Obligationenrecht sieht wie bei einem Umzug einen freien Tag vor – die meisten öffentlichen Arbeitgeber allerdings bieten fünf oder mehr Tage Vaterschaftsurlaub. In der Wirtschaft herrschen hingegen riesige Unterschiede: Laut der Arbeitnehmerorganisation Travail Suisse gewähren die meisten KMU nur einen Tag, während sich Konzerne wie Ikea (30 Tage), Google (60 Tage) oder Volvo (120 Tage) deutlich mehr leisten.
Bei einem Ja haben alle erwerbstätigen Väter das Recht auf einen zweiwöchigen Urlaub, der tageweise oder am Stück bezogen werden kann. Arbeitgeber dürfen weiterhin mehr bieten.
Die Vaterschaftsentschädigung würde genauso berechnet wie diejenige bei Mutterschaft. Väter erhalten 80 Prozent des Bruttoeinkommens vor der Geburt, höchstens jedoch 196 Franken pro Tag bzw. 2744 Franken für zwei Wochen. Vorgesehen ist, dass das aus der Erwerbsersatzordnung EO gezahlt wird, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer je zur Hälfte finanzieren. Der Bund rechnet mit maximalen jährlichen Kosten von 230 Millionen Franken. Der Beitragssatz der EO wird deshalb von 0,45 auf 0,5 Prozent erhöht.
«Wir sollten die Väter nicht hängen lassen»
Für die Mehrheit der Stimmberechtigten scheint die Zeit reif für einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub. In einer repräsentativen Umfrage des Link-Instituts von Ende Mai waren 71 Prozent der Befragten dafür und nur 16 Prozent dagegen. Allerdings scheinen die Gegner aufzuholen. Mitte August lag die Zustimmung zum Vaterschaftsurlaub laut einer Umfrage der Tamedia-Zeitungen bei zwei Dritteln, und eine SRG-Trendumfrage kam kurz darauf auf 63 Prozent Zustimmung – gegenüber 35 Prozent, die Nein stimmen wollten.
Hinter der Kampagne unter der Leitung von Travail Suisse steht ein breites Bündnis von Organisationen, Gewerkschaften und Parteien, darunter CVP, SP, Grüne, Grünliberale, EVP und die FDP-Frauen.
Heutige Väter wollen laut den Befürwortern mehr Verantwortung in der Familie übernehmen. Die Phase rund um die Geburt sei der entscheidende Moment für den Aufbau einer guten Beziehung zum Kind und für das Engagement der Väter. Ausserdem erhielten KMU mit einem gesetzlichen Vaterschaftsurlaub gleich lange Spiesse wie die Grosskonzerne, die jetzt mehr bieten, als das Obligationenrecht verlangt. KMU würden damit attraktiver für Junge.
Die Befürworter finden den Vaterschaftsurlaub bezahlbar. Der Beitragssatz für die Erwerbsersatzordnung müsste um ein halbes Promille auf 0,5 Prozent erhöht werden. Ein Arbeitnehmer mit 6500 Franken Monatslohn zahle so rund 20 Franken im Jahr für den Vaterschaftsurlaub.
Ausserdem verweisen die Befürworter darauf, dass der Vaterschaftsurlaub von zwei Wochen ein im Parlament breit abgestützter Kompromiss ist. Und dass in Europa nur Albanien, Irland und die Schweiz Väter nach der Geburt nicht unterstützen würden. Familienpolitisch habe die Schweiz den Anschluss verloren, was auf international agierende Unternehmen abschreckend wirke.
Die Befürworter verbinden den Vaterschaftsurlaub auch mit einem familienpolitischen Richtungswechsel: er erleichtere Frauen den beruflichen Wiedereinstieg
, sei ein Schritt zu einer fairen Aufteilung von unbezahlter und bezahlter Arbeit und helfe, die Geschlechterrollen zu verändern. Er verhindere, «dass die Traditionsfalle zuschlägt» und die Kinderbetreuung Frauensache bleibt. Der Vaterschaftsurlaub soll dabei kein Zwang sein. Wer auf ihn verzichten will, könne das ohne Begründung.
Das Referendumskomitee besteht vor allem aus Politikerinnen und Politikern der SVP, der FDP und Wirtschaftsvertretern. Zu den Köpfen der Nein-Kampagne in der Öffentlichkeit zählen unter anderem der Direktor des Gewerbeverbands Hans-Ulrich Bigler, die Thurgauer SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr und Gastrosuisse-Präsident Casimir Platzer. FDP und SVP lehnen den Vaterschaftsurlaub mehrheitlich ab.
«Vorsicht! Lohndiebe» – mit diesem Slogan wehren sich die Gegner gegen weitere Sozialabzüge. «Die Schweiz kann sich den Vaterschaftsurlaub nicht leisten», findet das Referendumskomitee. Die höheren EO-Beiträge würden die Konkurrenzfähigkeit der KMU gefährden. Zudem rechnen die Gegner mit indirekten Kosten in Betrieben, die die Gesamtrechnung für den Vaterschaftsurlaub auf bis zu eine Milliarde Franken jährlich erhöhen würden.
Ein weiteres Argument: Sozialversicherungen habe man eingeführt, um Elend und Not zu verhindern – aber darum gehe es beim Vaterschaftsurlaub gar nicht. «Eine Sozialversicherung darf nicht als Mittel eingesetzt werden, um Rollenbilder zu durchbrechen oder zu verändern», schreibt das Komitee. Die Zürcher SVP-Gemeinderätin Susanne Brunner, eines der Gesichter der Nein-Kampagne, hält den Vaterschaftsurlaub für einen «Sündenfall», der dazu führe, dass das Geld für die Schwachen in der Gesellschaft fehle. Mit einem Nein «schützen wir den Sozialstaat».
Dass einzelne Unternehmen heute mehr als zwei Wochen Vaterschaftsurlaub zahlen, führt zu einem überraschenden Argument. Laut den Gegnern würden sich «Grosskonzerne mit ihren Milliardengewinnen» erst als grosszügige Arbeitgeber profilieren und nun mit dem Vaterschaftsurlaub für alle versuchen, die Kosten «für ihre Luxusleistungen auf uns alle abzuschieben». Demnach wäre also ein Teil der Wirtschaft für den gesetzlichen Vaterschaftsurlaub verantwortlich.
Ausserdem befürchten die Gegner eine «Verstaatlichung und Umerziehung der Familie» und stemmen sich gegen eine neue väterliche Rolle. Sie kritisieren: «Die Befürworter eines staatlich verordneten Vaterschaftsurlaubs wollen Männer zu umsorgenden Vätern zwingen, die bereit sind, vermehrt Betreuungsaufgaben zu übernehmen.» So etwas sollten aber die Eltern selbst bestimmten.
Die Gegner machen noch weitere Gefahren für ihr Familienmodell aus, denn der Vaterschaftsurlaub sei Teil einer «Salamitaktik». Am Ende gehe es um eine «einjährige Elternzeit und vieles mehr». Das Komitee sieht sowieso schon jetzt Bestrebungen für eine «Verstaatlichung der Kindheit». Dazu gehören aus seiner Sicht unter anderem: Sprachförderung für Kleinkinder, Eltern-Kind-Angebote, Elternberatung – und Spielplätze. «Das Ganze finanziert vom Steuerzahler und obligatorisch für alle Familien.»
In Sachen Vaterschaftsurlaub ist die Schweiz ein Nachzügler – fast alle europäischen Länder haben ihn in der einen oder anderen Form. Zum Teil wird er nun in der Europäischen Union ausgebaut, denn eine neue Richtlinie sieht vor, dass alle EU-Staaten in den nächsten beiden Jahren einen «gut bezahlten Vaterschaftsurlaub» einführen. Er muss mindestens zehn Arbeitstage dauern und die Vergütung mindestens auf dem Niveau des Krankentaggelds sein.
Befürworter und Gegner des Vaterschaftsurlaubs gehen davon aus, dass dieser nur ein Anfang ist. Die Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen, die den Bundesrat berät, plädiert für insgesamt 38 Wochen Elternzeit als Ersatz für den Mutterschaftsurlaub (und den Vaterschaftsurlaub, sofern er beschlossen wird). Von diesen 38 Wochen wären mindestens 14 für die Mutter und 8 für den Vater reserviert.
Auch hier ist die EU weiter. Ihre Mitglieder sind bereits jetzt verpflichtet, einen Elternurlaub vorzusehen. Sind beide Eltern Arbeitnehmer, muss er insgesamt mindestens acht Monate (für jeden vier) betragen, wobei mindestens ein Monat nicht übertragbar ist. Ob der Elternurlaub vergütet wird, ist bisher jedem Staat selbst überlassen. Künftig muss es wenigstens teilweise eine Entschädigung geben.
So sieht es bei den Nachbarn der Schweiz aus: In Deutschland kann die sogenannte Elternzeit – ein Rechtsanspruch auf unbezahlte Freistellung von der Arbeit – bis zu drei Jahre pro Elternteil und Kind betragen. Dabei gibt es einen Anspruch auf maximal 14 Monate Elterngeld. Frankreich hat einen Elternurlaub von einem Jahr, der verlängert werden kann und teilweise bezahlt ist. In Italien sind es 6 Monate. Österreich kennt die sogenannte Elternkarenz, einen Anspruch auf unbezahlte Freistellung von der Arbeit bis zum 2. Geburtstag des Kindes.
Jetzt folgen, um über neue Artikel zum Thema per E-Mail informiert zu werden