So sähe das Wunschparlament unserer Leser aus
Wie sähe der Politbetrieb im Bundeshaus in Bern aus, wenn er nicht von Politikern gemacht würde? Leserinnen und Leser haben ihr Wunschparlament gewählt.
Im Beobachter haben die Wahlen bereits im Frühling stattgefunden – zumindest eine Spielart davon. «Wählen Sie das ‹andere› Parlament», titelten wir am 26. April 2019. Mit «andere» waren andere Kandidatinnen und Kandidaten gemeint. Das konnte eine engagierte Nachbarin sein oder ein kreativer Künstler, ein Kind oder eine Seniorin, eine historische Persönlichkeit oder eine Kunstfigur. Bloss etwas nicht: eine etablierte Politikerin oder ein ebensolcher Politiker.
Wie würden die Vertreterinnen und Vertreter dieses anderen Parlaments die Gewichte setzen, unbelastet von den Gesetzmässigkeiten des realen Politbetriebs ? Einige Gewählte präsentieren hier ihre Ideen.
Unser Wahl-Aufruf im April 2019
- Bart Staring (54), Kriens LU: «Ältere Menschen sind nicht ansteckend»
- Schwester Elisabeth Pustelnik (27), Jakobsbad AI: «Mutter Erde ist fast ausgeplündert»
- Karin Hug (42), Schangnau BE: «Ich bin privilegiert»
- Wer sonst gewählt wurde: z.B. Emil Steinberger, Jesus Christus, Bertrand Piccard
- Klaus Killenberger (57), Therwil BL: «Unsere Jugend wird entpolitisiert»
- Alba Chantico Ledesma (50), Zürich: «Es müsste sein wie bei den alten Griechen»
- Noah Schmutz (17), Burgdorf BE: «Ich fühle mich nicht vertreten»
Bart Staring (54): «Ältere Menschen sind nicht ansteckend.»
Beobachter: Sie arbeiten mit älteren Menschen. Ihr Eindruck?
Bart Staring: Das Alter hätte so viel Potenzial.
Aber?
Das Bild, das unsere Gesellschaft vom Alter hat, ist schief. Seit Jahrhunderten dominiert eine negative Vorstellung vom Alter.
Das heisst?
Das Alter wird gleichgesetzt mit Pflegebedarf, hohen Kosten
, Abbauprozessen. Dabei ist das Alter eine Lebensphase wie jede andere auch. Nur dass man auf diese nicht vorbereitet wird.
Muss man das Altsein denn lernen?
Ja, klar. Ein Pensionierungskurs reicht nicht. Es ist wichtig, sich rechtzeitig mit dem Alter auseinanderzusetzen. Die ganze Kindheit und Jugend wird man darauf vorbereitet, was es heisst, erwachsen und erwerbstätig zu sein. Aber ins Alter stürzt man urplötzlich, mit der Pensionierung
.
Und was dann?
Genau! Was dann? Mit der heutigen Lebenserwartung liegen dann im besten Fall noch 30 Jahre vor einem, die man komplett frei gestalten kann. Das Alter ist keine Phase, in der man langsam auf das Lebensende wartet. Leider ist es traurige Gewissheit, dass die Suizidrate ab 65 Jahren ansteigt. Viele Leute verlieren im Alter den Boden unter den Füssen
.
Was bräuchte es für ein gesünderes Bild vom Alter?
Es bräuchte mehr Durchmischung zwischen den Generationen, mehr Erwerbsmöglichkeiten nach der Pensionierung, mehr verschiedene Wohnformen für alle Bedürfnisse. Und weniger Wörter wie «betagt» oder «umnachtet». Und viel weniger Berührungsängste.
Was würden Sie als Parlamentarier noch anpacken wollen?
Ich würde das System mit den Krankenkassen auf den Kopf stellen. Allein das Wort sagt ja schon aus, dass mit der Krankheit Kasse gemacht wird, nicht mit der Gesundheit. Messbare pflegerische Leistungen werden deutlich höher finanziert als die sozialen Interaktionen im Alltag. Ich wünsche mir mehr Geld, mehr Zeit, mehr Raum, um den Menschen, nicht den kranken Körper in den Mittelpunkt unserer Arbeit zu stellen.
Schwester Elisabeth Pustelnik (27): «Mutter Erde ist fast ausgeplündert»
«Im Kloster leben , das klingt vielleicht nach fernab der Welt, einsam und langweilig – ist aber das Gegenteil. Erstens ist kein Tag wie der andere, und zweitens leben wir wie jeder normale Haushalt, mittendrin in der Gesellschaft. Die Kirche und unser Klosterladen sind ein Treffpunkt. Hier erfahren wir vom Leben, von Ängsten, von Freuden, von Sorgen. Wir lesen die Zeitung, hören Nachrichten. Wir wissen, was die Welt beschäftigt.
Gewissermassen sind wir Interessenvertreterinnen, ähnlich wie Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Die Leute kommen mit ihren Anliegen zu uns und wollen, dass wir für Gesundheit oder mehr Harmonie beten. Für eine kranke Grossmutter oder für eine Familie, die grad eine schwere Zeit durchmacht. Wir sind Vertreterinnen vor Gott.
Wenn ich Parlamentarierin wäre, würde ich Klimaskeptikern Dampf machen. Als Kapuzinerinnen leben wir nach dem heiligen Franziskus, die Schöpfung steht im Zentrum dieses Lebens. Mutter Erde ist schon fast ausgeplündert, und wir müssen den Klimaschutz endlich an die Hand nehmen. Eine Greta Thunberg hat unsere Gesellschaft gebraucht. Sie spricht aus, was niemand hören wollte.
Gleichzeitig würde ich auch für mehr Einfachheit plädieren. Weniger alles besitzen wollen, weniger alles machen können. Ich verstehe nicht, warum so viele nach Perfektion streben , wenn es doch genau das Unvollständige ist, das das Leben so reich macht.
Mit weniger wäre auch wieder mehr Raum für Kontakt, Austausch und Diskurs. Unsere Gesellschaft ist so anonym geworden. Das ist, was ich würde ändern wollen.»
Karin Hug (42): «Ich bin privilegiert»
Mit 19 hatte Karin Hug genug von der Schweiz und wollte nur noch weg. Nach vier Monaten war sie wieder da. Ohne Job, ohne Geld, aber mit einem Lebensmotto, dem sie treu geblieben ist: «Man muss sich bewegen, dann geht alles.» Und so bewegte sie sich. Jätete Gärten, sammelte am Strassenrand alte Möbel ein, verkaufte sie auf dem Flohmarkt. Lebte von dem, was der Garten gerade hergab. Ein Job hier, einer dort. «Irgendwie kam ich immer durch», sagt sie.
«Wir sind hier in der Schweiz so etwas von privilegiert.» Zum Leben braucht sie wenig: die Miete für das alte Bauernhaus, anständiges Fleisch für den Hund («Büchsenfutter kriegt er nicht, da weiss man nie, was drin ist»), Benzin für das Auto. Damit fährt sie zum Friedhof, wo sie einen 20-Prozent-Job als Gärtnerin hat, «den ersten festen Job überhaupt, man wird ja älter». Dienstags und samstags verkauft sie auf dem Waisenhausplatz in Bern Hängematten.
Der Platz in Sichtweite des Bundeshauses ist ihr lieber als ein Sitz drinnen. «Da müsste man sich ja für vier Jahre verpflichten! Ich bin halt schon gern meine eigene Chefin.» Dabei gäbe es durchaus Dinge, die sie ändern würde: «Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle, das fände ich super. Davon könnte ich leben wie eine Königin!» Aber Politik ist ihr zu undurchsichtig. «Ehrlich gesagt glaube ich nicht wirklich an das, was die dort drin erzählen.»
Und wenn sie, rein hypothetisch, im Nationalrat sässe? «Dann würde ich als Allererstes verlangen, dass man die Grenzen aufmacht für Flüchtlinge . Meine Güte, wir haben so viel Wohlstand, da können wir etwas abgeben!»
Die Frage, welche Nichtpolitikerinnen und -politiker gewählt werden sollten, brachte über 150 Vorschläge ein. Sie zeigen, woran es dem richtigen Parlament mangelt.
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An Humor
Oft genannt wurden Komiker – Peach Weber, Emil Steinberger, Viktor Giacobbo. Mike Müller : «Stimme des Volkes. Humorvoll, aber tiefgründig.»
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An Grundwerten
Eine andere Häufung: Menschen mit christlichem Hintergrund. Deutlich angeführt von Jesus Christus, «dem weltweit einflussreichsten Influencer für Nächstenliebe».
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An Querdenkern
Dieter Meier , Musiker und Unternehmer, um die ausgetrampelten Pfade zu verlassen. «Er würde mit seinem Erfindergeist das Parlament aus dem Dauerschlaf wecken.»
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An Zugpferden
Flugpionier Bertrand Piccard brächte eine Winner-Mentalität mit. «Er arbeitet mit anderen zusammen, um Visionen zu realisieren, und könnte die Bremser ins Boot holen.»
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An Praxisnähe
Besonders beliebt waren innerfamiliäre Wahlvorschläge – Kinder, Enkel, Partner. Oder die Ehefrau, «weil sie mit der Politik, wo viel zu viel geredet wird, nichts anfangen kann». Als Mutter und Grossmutter wisse sie, «was die heutige Jugend wirklich braucht».
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An Unabhängigen
Die muss man offenbar erst noch erfinden, wie die Kunstfigur «Emma Allerwelt». «Er oder sie wäre durchs Los bestimmt, lobbyistenfrei, kein Selbstdarsteller und nur dem normalen Menschenverstand verpflichtet.»
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An noch Unabhängigeren
Es geht noch virtueller: Ein 80-Jähriger fordert, «das Parlament sukzessive durch künstliche Intelligenz zu ersetzen ».
Klaus Killenberger (57): «Unsere Jugend wird entpolitisiert»
Manchmal wird Klaus Killenberger den Eindruck nicht los, es gehe im Politbetrieb etwas Grundlegendes vergessen. «Wo es eine Mehrheit gibt, gibt es auch eine Minderheit. Die Kunst ist: Wie bindet die eine Gruppe die Standpunkte der anderen ein?» Für tragfähige Lösungen brauche es den Ausgleich, Polarisierung führe zur Blockade .
Das sind Gemeinplätze, aber eine Haltung, die neuen Schub braucht, findet Killenberger. «Wir müssen die politische Diskussionskultur wieder fördern.» Das sei auch eine Aufgabe der Schule. Zusammenhänge erkennen, Meinungen zulassen, Bewertungen vornehmen – diese Kompetenzen zu vermitteln ist ihm wichtig. Doch der Lehrplan lasse kaum mehr Raum zum Diskutieren. «Wir laufen Gefahr, dass unsere Jugend entpolitisiert wird.»
Killenberger wurde in den siebziger Jahren als Schüler von der AKW-Debatte geprägt. Ein politischer Mensch ist er geblieben, ohne sich einer Partei zu verpflichten. «Sicher nicht rechts» sei er, sagt der Mann, der früher im Controlling einer Pharmafirma tätig war. Wenn ihm Stammtischrezepte entgegenfliegen, hält er dagegen. «Mit Fakten, sachlich und fair.»
Für welche Schweiz würde er sich im Parlament einsetzen? «Zum einen für eine, die sich von der Rosinenpickerei verabschiedet.» Wer die positiven Aspekte einer Sache wolle, müsse auch den Preis dafür akzeptieren. Und für eine Schweiz, die auch mutig vorangehe, die Visionen nicht von vornherein als unrealistisch abtue. Ein Grundeinkommen beispielsweise findet Killenberger «extrem visionär», weil es eine Gesellschaft vorwegnimmt, in der es zu wenig Arbeit für alle geben könnte. «Ich hoffe, dass die Jungen da dranbleiben.»
Alba Chantico Ledesma (50): «Es müsste sein wie bei den alten Griechen»
«Kunst ist eine universelle Sprache. Das ist der Grundgedanke unseres Vereins ExpoTranskultur. Wenn Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund zu kreativen Aktivitäten zusammenkommen, schaffen sie etwas Neues und Einzigartiges – nämlich Interkultur . Wir glauben, dass das ein guter Weg ist, um sich gegenseitig kennenzulernen und ein besseres Zusammenleben zu erreichen.
Wir veranstalten das ganze Jahr über Anlässe, von Workshops bis zu Lesekreisen. Wir wollen Begegnungen zwischen Einheimischen und Zugewanderten ermöglichen. Dabei lassen wir die Leute gemeinsam etwas gestalten. Nur so entsteht ein Dialog über verschiedenartige Bräuche und Lebensideen, und Dialog ist die Voraussetzung, um kulturelle Gräben zuzuschütten.
Ich bin 2009 aus Mexico City nach Zürich gekommen, der Liebe wegen. Damals habe ich gemerkt, wie schwer man sich hier tut, Kontakte zu anderen Bevölkerungsgruppen zu knüpfen. Dabei braucht es nur ein wenig Entgegenkommen. Wenn mir zum Beispiel das richtige deutsche Wort für etwas fehlt, dann wünsche ich mir von meinem Gegenüber: ‹Hilf mir doch!› Diese Hilfe ist eine Kleinigkeit, aber ein wichtiges Signal. Denn sobald die Migranten merken, dass man sich für sie interessiert, geben sie einem viel zurück.
Diese ganz persönliche Optik der Migration einzubringen wäre mein Thema als Parlamentarierin. Wobei: Ich weiss gar nicht, ob ich für die politische Arbeit geeignet wäre. Wenn schon, müsste es sein wie bei den alten Griechen, die bei ihren Debatten immer einen Philosophen dabeihatten. Das wäre meine Rolle, schliesslich habe ich Philosophie studiert. Vorerst lasse ich es mal dabei bewenden, im Ausländerbeirat der Stadt Zürich mitzuwirken.»
Noah Schmutz (17): «Ich fühle mich nicht vertreten»
Beobachter: Haben Sie das Gefühl, dass die Anliegen der Jugendlichen ernst genommen werden?
Noah Schmutz: Eigentlich sollten die Parlamentarierinnen und Parlamentarier auch uns Junge vertreten. Aber weil wir nicht wählen können, vertreten sie uns nicht wirklich. Wenn im Nationalrat 60-jährige konservative Politiker über die Zukunft der AHV
diskutieren, finde ich das deshalb schon etwas seltsam.
Sind Sie fürs Stimmrechtsalter 16?
Als junger Mensch hat man zu wenig Erfahrung für die Arbeit im Parlament. Viele in meinem Umfeld haben keine Ahnung, was dort läuft. Ich persönlich fände Stimmrechtsalter 16 ganz interessant. Das würde wohl die Politik ziemlich nach links verschieben.
Wie orientieren Sie sich über Politik?
Ich sehe die Beiträge von Parteien und Politikern in sozialen Medien
. Zeitungen lese ich kaum, aber ich schaue oft die «Arena». Wir diskutieren oft zu Hause. Ich folge der Operation Libero auf Instagram.
Angenommen, Sie würden in den Nationalrat gewählt. Was würden Sie in Ihrer ersten Rede sagen?
Dass man sich auf den Klimaschutz konzentriert, bei der Mobilität umdenkt und Elektroautos fördert. Die Klimabewegung
hat vielen Jungen gezeigt, dass man etwas bewirken kann, wenn man sich wirklich einsetzt. Ob alle Forderungen erfüllt werden, ist eine andere Sache.