Da ist er wieder, der Blues. Der Blick hinaus auf die kahlen Bäume, viel zu lange. Man hat keine Lust auszugehen. Steht lieber am Fenster und hängt Gedanken nach. So ist das mit der Melancholie, dieser sanften, nachdenklichen, bittersüssen Stimmung. Nicht schlimm, etwas wehmütig vielleicht, traurig gar. Und weit verbreitet. Rund 30 Prozent der Mitteleuropäer bekennen sich zur Melancholie.
 

«Melancholie ist weder krankhaft noch therapiebedürftig.»

Tobias Ballweg, Psychologe
 

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Doch was ist Melancholie? Schwermut, eine Depression, Pessimismus? «Melancholie ist Nachdenklichkeit, das Hören auf Zwischentöne, ein Innehalten», sagt Tobias Ballweg. Der Psychologe und Philosoph behandelt am Sanatorium Kilchberg ZH Menschen mit Burn-out Spitalärzte Arbeiten bis zum Umfallen und Depressionen. «Aber Melancholie ist weder krankhaft noch therapiebedürftig.» Depression dagegen sei permanente Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, oft sogar Todesnähe, die die Lebensbewältigung stark einschränke.

Deshalb ist Melancholie für Ballweg sogar eine Art Gegentypus zur Depression. Sie könne zwar in Traurigkeit oder depressive Verstimmung abgleiten. «In der Regel kann man sich daraus aber selbst wieder herausziehen.» Durch Denkarbeit zum Beispiel. Indem wir ein Problem, Gefühl oder eine Stimmung zulassen und uns damit auseinandersetzen. Manchmal fühlen wir uns vielleicht ein paar Tage lang niedergeschlagen. Aber irgendwann können wir die Traurigkeit überwinden.

Heitere Nachdenklichkeit

Melancholie siedelt sich irgendwo zwischen Traurigkeit und Träumerei an. Sie sei «Fifty Shades of Gefühlswelt», sagt der Autor und Kabarettist Bänz Friedli. Erst die Gemischtheit der Gefühle, die Gegensätze machten das Leben aus. Die Idylle sei sicher schön, aber pure Illusion. «Eine Postkarte stimmt nie. Der ungetrübte Anblick ist falsch – und fad!»

Friedli lächelt verschmitzt. «Es gibt so etwas wie eine heitere Nachdenklichkeit. Es ist doch schön, wenn das Leben etwas zu denken gibt.» Heute aber sei alles gegenwärtig. Nachrichten verbreiten sich in Windeseile über die Welt, wir erleben Himmel und Hölle zu jeder Zeit. «Wie willst du dir da deine Heiterkeit bewahren?» 
 

«Es hat immer wieder Lieder gegeben, die mir diesen Zwiespalt erklärten.» 

Bänz Friedli, Autor und Kabarettist

 

J. J. Cale, Leonard Cohen, Wolfgang Niedecken, Jovanotti oder der Berner Songwriter Trummer. Musik sei viel mehr als akustische Kunst Y wie Yesterday Unsere liebsten Liebeslieder , auch ein emotionales Organ. Die Leber der Seele etwa? Er grinst und nickt. «Wir finden doch im Tod das Leben und in der Trauer den Humor.»

Ein grosser Teil von Pop, Jazz oder Klassik klingt entweder melancholisch oder ist, wie bei Mozart, aus einem Übergang der Melancholie in Aufbruch und Lebensfreude entstanden. Wohin man hört – Blues, Fado, Chanson, bei den Cantautori oder in russischen Liedern –: Die Weltstimmung heisst Melancholie.

Die Fähigkeit, Dinge gelassen hinzunehmen

Ist Melancholie also eine Art Lebenshilfe, um nicht an den Widersprüchen der Welt zu verzweifeln? «Wir haben vier grundlegende Varianten der Lebensbewältigung», sagt Psychologe Tobias Ballweg. «Die rosa Brille, die nichts Negatives an uns heranlässt. Zweitens: verleugnen oder verdrängen, damit alles easy bleibt. Dann die Depression, das Scheitern an der Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit Depression am Arbeitsplatz Wie geht man damit um? . Und die Melancholie, die Fähigkeit, gelassen hinzunehmen, was sich nicht ändern lässt.» Oder: das Leben als Zumutung akzeptieren – und geniessen. Die Melancholie sei eine Einstellung zur Wirklichkeit.

Melancholiker setzten sich auseinander mit den Dingen, die sie beschäftigen, und litten auch daran, so Ballweg weiter. «Etwa mit der existenziellen Dimension des Daseins, der Verletzlichkeit, Sterblichkeit, mit Schicksal oder Kontrollverlust.» Dabei können sie die Einsicht in die Vergeblichkeit allen Strebens hinnehmen, sie könne sie sogar heiter machen. Denn Melancholiker sehen auch die Schönheit des Daseins.

Einen Sinn für Dinge, die für andere bedeutungslos sind

Der Melancholiker lehnt sich gern an, wie James Dean, der melancholische Rebell. Als Jugendlicher gibt er den sensiblen Desperado, «der sein unbestimmtes Weh und den umflorten Blick trägt wie das Markenzeichen auf dem Polohemd», schreibt Mariela Sartorius in «Die hohe Kunst der Melancholie». Der Jung-Melancholiker kokettiere mit dem Geheimnisvollen, vielleicht um seine Verunsicherung zu kaschieren, wenn die Dinge wieder mal nicht zusammenpassen. «Was ist denn?», wird er gefragt. «Nichts», murmelt er und senkt den Blick.

Sartorius beschreibt den Melancholiker als «typischen Chiller». Er sei kein Springinsfeld oder Revoluzzer. Und er sei weder ein rastloser Selbstoptimierer, noch wolle er die Welt retten, denn er ahnt: Es führt zu nichts.

«Leidvolles beeindruckt mehr als Freude und Glück. Entscheidungen reifen lange», schreibt der Münchner Psychotherapeut Josef Zehentbauer in «Die traurige Leichtigkeit des Seins». Einen möglichen Schlüssel zur Kunst sieht Psychologe Ballweg, wenn er sagt, dass Melancholiker einen Sinn für Dinge hätten, die andere für bedeutungslos halten. «Auf einem Flohmarkt oder auf dem Friedhof blühen sie auf.» 

Wie halten es Künstler mit der Melancholie?

Augenfällig ist auch die Verbindung von Melancholie und Humor. Wo Poesie ins Spiel von Sinn, Unsinn oder Absurdität mündet, entsteht der Witz. Was halten Berufshumoristen von Melancholie? Satiriker Lorenz Keiser winkt ab. «Lange bevor ich schwermütig werde, werde ich sauer.» Emil Steinberger wird wortkarg: «Dazu kann ich nicht viel sagen.» Anders Gerhard Polt. Sein Antrieb fürs Kabarett sei «aktive Resignation» – ein klassisches Melancholiker-Statement. 
 

«Melancholie hat mit Urvertrauen zu tun – und mit Gelassenheit.»

Peach Weber, Komiker
 

Peach Weber, bekannt als robuste Gagmaschine, wird nachdenklich. «Ich habe an der Reuss ein Plätzli, dort sitze ich oft und denke wichtige Dinge durch.» Nicht immer komme dabei etwas Gescheites heraus, aber an eins denke er jedes Mal: «Dieser Fluss fliesst da seit tausend Jahren vorbei und ist stets derselbe.» So etwas kann nur jemand sagen, der seine existenzielle Begrenztheit akzeptiert – ein Melancholiker.

Peach Webers Gags sind selten nachdenklich. Aber mit dem Zwerg Stolperli hat er eine melancholische Kinderfigur geschaffen, die glücklich durchs Leben strauchelt. «Melancholie hat mit Urvertrauen zu tun – und mit Gelassenheit», sagt Weber. Er habe das Glück dieses Urvertrauens. «Die Melancholie kommt und geht. Sie ist etwas vom Schöneren im Leben.»

 

«Ich versinke oft tagelang in einer Stimmung, die sich wie ein sanfter Mantel anfühlt.»

Alain Mieg, Künstler
 

Und sie kann kreativ machen. Der Lenzburger Künstler Alain Mieg malt «himmlische Traumlandschaften», wie er seine Werke nennt. Farben in tausend Schichten, fast surreal und doch gegenwärtig. «Oft versinke ich tagelang in einer Stimmung, die sich wie ein sanfter Mantel anfühlt.» Dann sei er nachdenklich, dünnhäutig, sensibel – und kreativ. Wenn sich diese sanfte Melancholie ankündige, freue er sich immer. «Sie ist wie ein guter Freund, der zu Besuch kommt.» Und: «Man muss sie an sich heranlassen. Dann ist sie leicht wie ein weiches Bett.»

Melancholie ist nicht lernbar

Klingt doch alles wunderschön. Warum meiden dann so viele die Melancholie? Warum verdammt sie unsere Spass-, Glücks- und Leistungsgesellschaft Erziehung Wie viel Spass darf sein? wie der Teufel das Weihwasser? «Weil das Rad dann auch mal stillsteht. Das kann für manche Menschen unerträglich sein», sagt Psychologe Ballweg. Er arbeitet viel mit Burn-out-Patienten. Stress hat sie krank gemacht, der Stress, perfekt sein zu wollen, die Angst, den Ansprüchen nicht zu genügen, zu scheitern, zu versagen. Man müsse robust sein, sich davon erholen zu können. Melancholiker hätten in der Regel diese Robustheit.

Herr Ballweg, müssen wir also demnächst mit dem Ratgeber «Melancholie lernen in zehn Schritten» rechnen? Er lacht. «Das ist absurd. Man kann Melancholie nicht lernen.» Aber man könne lernen, Erfahrungen und Fragen an sich heranzulassen, weniger zu verdrängen, kontemplativer zu werden. Es müsse ja nicht gleich ein Gang über den Friedhof sein. «Schon die Einsicht, dass die Jagd nach dem Glück alles bringt, nur kein Glück, kann heilsam sein.»

Eine kurze Geschichte der Melancholie

Als Begriff entstand Melancholie in der griechischen Antike. Gemäss der damaligen Säftelehre entsprach sie dem Zustand, in dem sich überschüssige grüne Galle schwarz färbte und ins Blut ergoss: melagcholía heisst Schwarzgalligkeit. Melancholie war hoch geschätzt. «Warum erweisen sich alle aussergewöhnlichen Männer in Philosophie, Politik, Dichtung oder den Künsten als Melancholiker?», fragte etwa der Philosoph Theophrast.

Im Mittelalter war es dann mit der Freundschaft zur Melancholie vorbei. Sie sei «Todsünde und Instrument des Teufels», wetterte Kirchenvater Cassianus. Thomas von Aquin beschimpfte die Acedia als «Müdigkeit der Seele und Schuldigwerden des Herzens». 

In der Aufklärung wurde sie mit Hysterie und Schwäche des Nervensystems gleichgesetzt. Und in der Romantik rückte man sie in die Nähe der Depression. 

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Rehabilitierung. Seit etwa 1970 ist klar: Depression ist eine Krankheit, Melancholie dagegen ein Gemütszustand, eine Charaktereigenschaft.

Buchtipps
  • Wilhelm Schmid: «Unglücklich sein. Eine Ermutigung»; Insel-Verlag, 2012, 104 Seiten, Fr. 14.90
  • Mariela Sartorius: «Die hohe Kunst der Melancholie»; Gütersloher Verlagshaus, 2011, 192 Seiten, Fr. 18.90
  • Josef Zehentbauer: «Melancholie. Die traurige Leichtigkeit des Seins»; Peter Lehmann Publishing, 2014, 212 Seiten, Fr. 14.90 
  • George Steiner: «Warum Denken traurig macht»; Suhrkamp, 2016, 124 Seiten, Fr. 12.90
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Chantal Hebeisen, Redaktorin
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