Heute einsteigen, morgen zahlen – was heisst das?
Die ÖV-Branche testet mit dem Projekt My Ride einen personalisierten Billetttarif. Konsumentenschutz und VCS warnen vor Willkür und versteckten Preiserhöhungen.
Veröffentlicht am 22. November 2023 - 17:38 Uhr
Was ist die Idee von SBB und Co.?
Einsteigen, losfahren – und Ende Monat wird abgerechnet. Das ist die Idee von My Ride. So heisst das Projekt, mit dem die ÖV-Branche auf ein neues Billettsystem hinarbeitet.
Heute können Passagiere entweder ein Streckenbillett von A nach B oder ein Zonenbillett für eine bestimmte Zone kaufen. Beides gibt es auch als Abo. Der Preis ist fix und bezahlt wird immer im Voraus.
Bei My Ride zeichnet das Smartphone auf, welche Strecken man innerhalb eines Monats fährt. Danach wird der Preis für die Fahrten berechnet. Ähnlich wie es heute schon die Fairtiq-App oder die Funktion Easy Ride auf der SBB-App bei Tagesreisen machen. Bei der Abrechnung nach einem Monat kommt jedoch ein weiteres Element ins Spiel: Je nachdem, wie viel man gefahren ist, bekommt man einen Bonus gutgeschrieben. «Vielreisende Kundinnen und Kunden fahren mit dem E-Tarif so günstig wie mit einem Abo», sagt Sprecherin Susanna Wittwer Klingler von der ÖV-Branchenvereinigung Alliance Swisspass.
Je öfter der ÖV genutzt wird, desto günstiger wird also der Preis pro Kilometer, und der Billettpreis wird personalisiert. Man spricht auch von dynamischen Preisen, weil die gleiche Strecke nicht immer gleich viel kostet.
Was heisst das für ÖV-Nutzer?
Mit dem System von My Ride muss niemand mehr ein Billett kaufen. Man benutzt den ÖV, als hätte man ein GA. Wie viel zum Beispiel eine Reise von Aarau nach Luzern kostet, kann man vor Antritt sehen. Wie viel man Ende Monat tatsächlich bezahlt, hängt aber von der Zahl der gefahrenen Kilometer ab. Um My Ride zu nutzen, braucht es ein Smartphone, damit jeder gefahrene Kilometer mit Bahn, Bus, Tram oder Postauto erfasst werden kann.
Wann wird das neue Tarifsystem My Ride eingeführt?
Noch ist alles erst eine Idee. Im März will die ÖV-Branchenvereinigung Alliance Swisspass erste Tests mit ausgewählten Kunden durchführen. Danach werde entschieden, wie es weitergehen soll, sagt Sprecherin Susanna Wittwer Klingler. Bis auf Weiteres bleibt für die ÖV-Kunden alles beim Alten. Die Option My Ride soll frühestens in zwei Jahren zur Verfügung stehen, «wie und in welcher Form, ist aber noch offen», sagt Wittwer gegenüber dem Beobachter.
Warum wird das Projekt My Ride kritisiert?
Wer mit dem öffentlichen Verkehr unterwegs ist, soll den Preis dafür immer kennen. Das forderten der Konsumentenschutz und der Verkehrsclub Schweiz (VCS) kürzlich an einer Pressekonferenz. «Personalisierte und dynamische Preise verstossen gegen dieses Prinzip», sagt VCS-Geschäftsführer Anders Gautschi. Die Passagiere würden den Überblick über die Kosten verlieren. «Das sorgt für Verunsicherung und öffnet versteckten Preiserhöhungen Tür und Tor.»
Der Konsumentenschutz und der Verkehrsclub wollen auch verhindern, dass bestimmte Personen in Zukunft schlechtergestellt werden. Zum Beispiel Fahrgäste, die kein Smartphone oder keine Kreditkarte haben oder die nicht wollen, dass ihre Fahrten aufgezeichnet werden. «Es muss weiter möglich sein, den ÖV anonym zu benutzen und ein Billett mit Bargeld zu kaufen – ohne dass man dafür mehr zahlt», sagt Konsumentenschutz-Geschäftsführerin Sara Stalder. Das heisst: Auch klassische Abonnemente wie das Halbtax, das GA, Mehrfahrtenkarten oder ein Zonenabo müssen weiterhin erhältlich sein, fordern Konsumentenschutz und VCS.
Was entgegnet die ÖV-Branche?
Alliance Swisspass nimmt «verfrühte, vorauseilende Positionierungen von Interessengruppen mit einer gewissen Besorgnis zur Kenntnis», sagt Sprecherin Wittwer Klingler. Damit ein neues Tarifsystem akzeptiert werde, müsse es in der gleichen Preisklasse liegen wie das bisherige. Mit dem Projekt My Ride wolle man herausfinden, wie die Nutzung des öffentlichen Verkehrs einfacher und attraktiver werden könne. «Vor allem für Leute, die heute kein Abo haben. Sie sollen jederzeit einsteigen können – und wenn sie das Angebot öfter nutzen, sollen sie wie Abo-Besitzer ebenfalls von Vergünstigungen profitieren», sagt Wittwer. Ziel sei es, mehr Leute auf den ÖV zu bringen und die Züge und Busse besser auszulasten.
Alliance Swisspass verspricht, dass ÖV-Kunden auch in Zukunft ohne Smartphone ein Billett kaufen und ohne Nachteile anonym reisen können. Wittwer räumt aber ein, dass die Branche die Digitalisierung nutzen will, um Infrastrukturkosten zum Beispiel für Billettautomaten zu senken.
Und was ist mit Halbtax, GA und Co.? Hier gibt es kein Bekenntnis von Alliance Swisspass. «Für eine Aussage, welche Art des Reisens die Kunden in zehn Jahren bevorzugen, ist es aktuell zu früh», sagt Sprecherin Wittwer.
3 Kommentare
Ich möchte wissen was das Billet kostet. Da ich mein Budget muss einhalten. Habe daher auch ein 1/2 Tax Abo.
Im Zeitalter der Digitalisierung ist eine solche Lösung überfällig. Wer öfter fährt profitiert von einem mehr oder weniger grossen Rabatt. Und jeder Mitbürger hat mit einem solchen System immer ein Generalabonnement in der Tasche, und zwar ohne dass er sich zum voraus mit einem grösse-ren Betrag einkaufen muss. Der Einwand, dass man erst im Nachhinein vom Rabatt Kenntnis erhält ist verständlich. Mit einem Rabatt, der auf-grund des Fahrkonsums in der Vergangenheit festgelegt wird, könnte der Preis für die künftigen Fahrten ermittelt werden. Vorteil: kein preislicher Blindflug!
"Mit einem Rabatt, der auf-grund des Fahrkonsums in der Vergangenheit festgelegt wird, könnte der Preis für die künftigen Fahrten ermittelt werden. Vorteil: kein preislicher Blindflug!"
Und wenn sich die Gewohnheiten ändern? Könnte ja vorkommen. Nein, ich will vorher wissen was es kostet. Das steht auch so in der Preisbekanntgabeverordnung. Alles andere kommt nicht infrage.