Die Wut der Schalterangestellten
Die SBB kürzt ihrem Personal im Reisezentrum Zürich HB die Pausen. Ob das die Wartezeiten für Kunden verringert, ist fraglich – die Schalterangestellten befürchten das Gegenteil.
Veröffentlicht am 2. Dezember 2019 - 11:52 Uhr
Die Schalterangestellten am Zürcher Hauptbahnhof dürfen weiterhin 15 Minuten Pause machen. Die SBB verzichtet auf die geplante Kürzung. Das teilte sie dieser Tage dem Personal mit.
Die SBB-Leitung hatte angekündigt, die Kurzpausen am Morgen und Nachmittag auf 10 Minuten zu reduzieren – so, wie das bereits in den meisten anderen Reisezentren der Fall ist. Nach Protesten des Personals, über die beobachter.ch berichtete, belässt die SBB-Führung die Pausenregeln am Zürcher Hauptbahnhof nun doch auf dem heutigen Stand. (brh)
Roger Schneider* ist Bähnler durch und durch. Seit der Lehre arbeitet er für die SBB, die meiste Zeit am Schalter. Er liebe seinen Beruf, sagt der bald 30-Jährige. Aber: «Der Druck von oben nimmt ständig zu. Die SBB-Führung presst uns aus.»
Schneider arbeitet im Reisezentrum am Zürcher Hauptbahnhof. Billettkäufe, Abo-Verlängerungen, Reisebuchungen, Gepäckaufgabe – all das geht am grössten Schweizer Bahnhof über ihn und seine 130 Kolleginnen und Kollegen: 7 Tage die Woche, von 6 Uhr morgens bis 9 Uhr abends. «Bei uns herrscht Hochbetrieb. Der Warteraum ist fast immer voll, die ganze Schicht folgt ein Kunde auf den nächsten, wie bei den Kassen in der Migros.»
Migros-Kassiererinnen in der Filiale am Zürcher Hauptbahnhof haben zusätzlich zur Mittagspause morgens und nachmittags eine 20-minütige Kurzpause. Für die Angestellten des SBB-Reisezentrums waren es bisher 15 Minuten. Ab Januar jedoch sind nur noch 10 Minuten erlaubt. Eine «Harmonisierung» nennt es die Konzernleitung. In vergleichbaren Schweizer Bahnhöfen betrage die Pausenzeit heute schon 10 Minuten, künftig soll das auch am Zürcher HB so sein.
«Unsere Situation kann man aber nicht mit jener an einem Kleinstadt-Bahnhof vergleichen», sagt Schneider. Die Arbeit im grössten Reisezentrum der Schweiz lasse kaum eine Verschnaufpause zu. Dazu betrage der Weg vom Schalter- in den Pausenraum in Zürich 2 bis 3 Minuten. Bei 10 Minuten Pause blieben 4 Minuten Zeit zum Ausruhen . Ein Kaffee und kurz aufs WC, das liege nicht mehr drin. «Dafür muss man dann während der Schicht auf die Toilette, ein Schalter wird unbesetzt und die Kunden müssen warten.»
«Ein Eigengoal» nennt es der KV-Mann. Denn eigentlich bezwecke die Pausenkürzung, die Wartezeiten für die Kunden zu verringern. Daran liege auch den Angestellten viel, sagt Schneider, «schliesslich sind wir es, die den Frust von genervten Kunden abbekommen». Weniger Erholung führe aber nicht zu mehr Tempo. Er zeigt eine Mail der SBB-Führung, in der steht: «Die Kurzpausen sollen die Gesundheit, die Leistungsfähigkeit und die Zufriedenheit des Verkaufspersonals positiv beeinflussen. Das trägt auch zu einer höheren Kundenzufriedenheit bei.» In derselben Mail kündigte die SBB die Pausenkürzung an. «Das ist doch fast Hohn», sagt Schneider.
Die Pausenkürzung ist nur die jüngste von vielen Massnahmen, von denen sich die Schalterangestellten am Zürcher HB gegängelt fühlen. Ihr Gefühl ist: die SBB-Leitung spielt berechtigte Ansprüche der Kunden gegen das Wohl des Personals aus. Dabei seien es oft betriebswirtschaftliche Ziele, die kürzere Wartezeiten verhinderten. «Wir sind nicht gegen diese Ziele, aber sie zu erreichen, darf nicht einseitig auf unsere Kosten gehen.»
«Die Kunden sehen, wie wir weiter in den Computer tippen, und denken: Warum ruft der nicht den nächsten auf?»
Roger Schneider*, Schalterangestellter Zürich HB
Schneider nennt zwei Beispiele: Die SBB wolle möglichst viele Leute dazu bringen, ihre Billette
an Automaten zu lösen. Ständig seien zwei Angestellte abbestellt, um Kunden dorthin zu verweisen. Wer ins Reisezentrum komme, habe aber meist eine komplizierte Anfrage und brauche Hilfe. Oder es sind Touristen, die nur einmal ein Ticket lösen und die man kaum zu Automatenkunden erziehen könne. «Aber Hauptsache, die Automatenquote stimmt. Dafür bleiben zwei Schalter geschlossen.»
Weiter verlange die SBB, dass die Schalterangestellten bei jedem Billettverkauf Zusatzleistungen anbieten. Etwa eine Reiseschutz- oder Diebstahlversicherung oder ein 1.-Klasse-Ticket. Eine Zeit lang musste das Schalterpersonal jedes Mal ein Webformular ausfüllen, ob es geklappt hat – und wenn nicht, eine Begründung liefern. Ein «Fokusteam» überprüfte die Verkäuferqualitäten: Das sind andere Schalter-Angestellte, die – während sie selber Kunden bedienen – beim Nachbar links und rechts mithören sollen, wie gut dieser eine Versicherung anpreist. Hatte es der Kollege gut gemacht, bekam er ein «Lob-Kärtchen» in sein Postfächlein. «All das bringt zusätzliche Arbeit. Die Kunden sehen, wie wir weiter in den Computer tippen, und denken: Warum ruft der nicht den nächsten auf?»
Mehrfach hat es gemäss Schneider in den letzten Monaten Aussprachen mit der Reisezentrum-Leitung gegeben. Gebracht hätten sie jedoch wenig. Immerhin: Die 10-minütige Pausenzeit startet nun erst, wenn die Angestellten einen bestimmten Punkt auf dem Weg zum Pausenraum passiert haben. Das gleiche gilt für den Rückweg. «Viel bringt das aber nicht, unsere Pause wird immer noch empfindlich gekürzt», sagt Schneider.
«Das Berufsbild des Schalterangestellten ist anspruchsvoller geworden.»
SBB-Konzernleitung
Die SBB schreibt auf Anfrage, sie halte sich jederzeit an den Gesamtarbeitsvertrag und an das Arbeitsgesetz, so auch bei den arbeitsrechtlichen Pausen
. Sie betont: Die Kurzpausen sind eine freiwillige Leistung an die Arbeitnehmer. Tatsächlich gibt es per Gesetz kein Anrecht auf solche bezahlten Kurzpausen. In den meisten Betrieben sind sie aber üblich.
Das Berufsbild des Schalterangestellten sei anspruchsvoller geworden und habe sich verändert, schreibt die SBB weiter. «Es geht nicht mehr einfach um den Billettverkauf, sondern um kompetente Mobilitätsberatung .» Dazu gehörten auch Versicherungsangebote. Die Lobkärtchen seien dazu da, eine «positive Feedbackkultur» zu fördern. Über den derzeitigen Unmut der Reisezentrumsangestellten am Zürcher HB ist die SBB im Bilde. Umfragen hätten aber nicht gezeigt, dass die Zufriedenheit der Mitarbeiter generell abgenommen habe. Werte zu einzelnen Bereichen kommuniziere man nicht öffentlich.
Gemäss Schneider sind 80 bis 90 Prozent der Schalterangestellten in Zürich unzufrieden mit der jüngsten Entwicklung. Er zeigt die Auswertung einer Umfrage, durchgeführt durch die Reisezentrumsleitung: Darin bewertet der Grossteil der Befragten ihre Zufriedenheit auf einer Skala von 0 bis 10 mit 5; viele auch tiefer, niemand über 6.
Bei der SBB-Führung scheint man das Gefühl zu haben, es braucht seitens des Personals nur etwas guten Willen. In der jüngsten Mail zur neuen Pausenregelung heisst es: «Durch die etwas höhere Präsenzzeit am Schalter profitiert ihr selbst und unsere Kunden – der Gesamtdruck nimmt vermutlich leicht ab.»
*Name geändert
6 Kommentare
Hier wir wieder einmal der Unsinn der modernen Personalführung
aufgezeigt: Druck auf die Mitarbeiter, die darauf mit Frust reagieren, und diesen unbewusst an die Kundschaft weitergegeben
Die Wurzel des Problems ist wahrscheinlich dass der Bund verlangt, dass seine Bundesbetriebe Gewinne erwirtschaften – die CEOs werden dann bei "Erfolg" dafür entsprechend entlöhnt. Dies hat nun schon jahrelang gedauert, und jetzt "haben wir den Salat" - siehe SBB Infrastruktur, Postauto, etc. Es wäre wohl besser, wenn endlich eingesehen würde, dass öV und Post ein Teil der CH-Grundinfrastruktur sind und nach entsprechenden Kriterien gehandhabt werden sollten.
Ein weiteres Beispiel, wieviel die heutigen Chefs taugen. Nämlich gar nichts.
es tut gut zu hören dass auch in anderen Firmen die Schraube angezogen wird. ich arbeite in einem Callcenter, es wird nur die Mittagspause bezahlt, Pausenzeiten gehen zu Lasten des Arbeitnehmers. WC Zeit wird 10 Minuten bezahlt, darüber wird von der Arbeitszeit abgezogen.
Moderne Sklaverei nennt man das!
Pinkeln Sie doch einfach am Arbeitsplatz, mal sehen, wie lange die Vorgesetzten zuschauen. Und wenn Sie eine grosse Sitzung haben auf dem WC, machen Sie das Geschäft bei Ihren Vorgesetzten. Die meisten taugen eh zu nichts.
Lieber Dorfly, es wäre vielleicht klüger wenn Ihr Arbeitsgeber die Schraube lockern würde, anstatt bei andern Betrieben die Schraube anzuziehen. Dann ginge es allen gut. Gruss.