«Ein motivierender Lohn ist nicht an Leistung geknüpft»
Fix, transparent, auf Jahre hinaus berechenbar: Bei der Firma Viisi sind die Löhne wie beim Staat – weil die Angestellten so besser arbeiten, sagt ihr Chef.
Veröffentlicht am 21. Februar 2020 - 17:11 Uhr
Bis vor vier Jahren sorgten die Löhne auch bei der Firma Viisi immer wieder für Gesprächsstoff. Wer verdient wieviel? Ist das gerecht? Was bringt die nächste Lohnrunde? Dann hat der holländische Hypothekenberater sein Lohnmodell radikal vereinfacht: Von der Beraterin bis zur Sekretärin gibt es für jede Funktion ein festes Lohnband, transparent für alle. Wo dort jemand startet, hängt von der Berufserfahrung ab. Jedes Jahr bekommen alle eine Gehaltserhöhung. Fix. Beraterinnen 200 Euro, Sekretärinnen 75 Euro. Damit hat es sich. «Seit wir das eingeführt haben, sind Löhne bei uns kein Thema mehr», sagt Viisi-Mitbegründer Tom van der Lubbe.
Der 51-Jährige wohnt mit seiner Familie in Zürich und pendelt nach Amsterdam. Früher arbeitete er als Berater bei McKinsey, heute will er «die Finanzwelt verändern» und «die Art und Weise, wie wir arbeiten», schreibt er auf seinem Linkedin-Profil. Lohntransparenz ist für ihn ein entscheidender Schritt dahin. Transparenz schaffe Vertrauen. «Wir fordern sie in der Politik, wir fordern sie bei den Zutaten für jeden Farmer-Stängel. Warum soll Intransparenz gut sein, wenn es um die Entlöhnung für unsere Arbeit
geht?»
Alle Löhne sind bei Viisi transparent – auch die weitere Entwicklung.
Bei Schweizer Firmen (ebenso wie bei ausländischen) gibt es volle Lohntransparenz fast nirgends. Für van der Lubbe aus einem einzigen Grund: «Es würde herauskommen, wie willkürlich und unfair die Löhne oft sind.»
Überraschend sei das nicht, wenn klare Regeln fehlten. Tatsächlich haben zwar die meisten Unternehmen Lohnbänder für jede Funktion, legen diese aber selten offen. Der Lohn wird individuell ausgehandelt. Wer in guter Position ist oder gut pokert, ist im Vorteil. Bewerber, die bei ihrem letzten Arbeitgeber ein hohes Gehalt hatten, können in der Regel ebenfalls mehr herausschlagen. In fast jedem Team verdienen deshalb einige mehr als andere, ohne dass es dafür einen ersichtlichen Grund gibt.
Gleich funktioniert es bei Lohnerhöhungen: Fast alle Unternehmen stellen ihren Mitarbeiter in Aussicht, mit der Zeit und bei guter Arbeit mehr verdienen zu können. Wie viel und wann ist aber wiederum individuell. «Im Klartext hängen Lohnerhöhungen allein vom Gutdünken des Chefs ab, nicht selten allein von seiner Laune», sagt van der Lubbe.
Aber strengen sich die Leute nicht weniger an, wenn sie eine fixe Lohnerhöhung bekommen, so wie bei Viisi? Der Hypothekenberater ist vom Gegenteil überzeugt. Eine automatische Lohnerhöhung motiviere mehr als eine vage Aussicht darauf. Bekomme man dann nämlich keine, sei das immer eine Enttäuschung. «Das gibt einem das Gefühl, man war zu wenig gut, obwohl das in den meisten Fällen nicht der Grund ist, warum eine Gehaltserhöhung ausbleibt.»
«Wenn jemand einen solchen Anreiz nötig hat, war es falsch von uns, ihn oder sie überhaupt einzustellen.»
Tom van der Lubbe
Leistung lasse sich kaum messen, ist van der Lubbe überzeugt. Jedenfalls nicht so, dass man daraus einen bestimmten Geldbetrag als Lohn ableiten könne. Da sei man sonst wieder bei der Willkür. «Ein transparenter, fairer und damit motivierender Lohn ist deshalb nicht an Leistung geknüpft.»
Das heisst nicht, Leistung spielt bei der holländischen Beratungsfirma keine Rolle. Jedes Team hat klare Ziele, der Druck ist hoch – gerade wegen der fixen Lohnerhöhungen. «Da darf man entsprechende Leistung einfordern», sagt van der Lubbe. Wenn sie jemand nicht bringt, bekomme die Person vom Unternehmen Hilfe, werde betreut. «Was würde es bringen, ihr die Gehaltserhöhung zu verweigern? Würde sie das motivieren? Wenn jemand diesen Anreiz nötig hat, war es falsch von uns, ihn überhaupt einzustellen.»
Das Lohnmodell von Viisi ist letztlich das gleiche wie beim Staat. Die Löhne von Polizistinnen, Lehrern, Krankenpflegern und Steuerprüferinnen sind ebenfalls fix, transparent und auf Jahre hinaus berechenbar. Im Gegensatz zum holländischen Hypothekenberater herrscht jedoch zumindest beim Bund die Meinung vor, dass Lohn und Leistung irgendwie doch verknüpft werden sollten. So sind dort die Lohnstufen zwar ebenfalls abhängig von Alter und Erfahrung, dazwischen gibt es aber Spielraum für leistungsabhängige Lohnerhöhungen. Wer in der Mitarbeiterbeurteilung ein «sehr gut» oder «gut» erhält, bekommt 1 bis 3 Prozent mehr Gehalt. Wie kürzlich herauskam, waren das in den letzten Jahren 96 Prozent aller Bundesangestellten. Prompt hagelte es Kritik, der Bund bewerte seine Leute zu gut. Dabei erhalten auch in der Privatwirtschaft die meisten Angestellten eine gute Beurteilung. Nur gibt es dort in der Regel keine automatische Lohnerhöhung dafür.
«Sollen die Chefs beim Bund also ihre Angestellten schlechter beurteilen, damit sie ihnen nicht jedes Jahr Lohnerhöhung geben müssen?» fragt van der Lubbe rhetorisch. Bei der UBS wird genau das gemacht, berichtete die Zeitung «Schweiz am Sonntag» vor einigen Jahren. Die Grossbank legt im vornherein fest, dass 5 bis 10 Prozent der Angestellten ein «ungenügend» erhalten müssen und 15 bis 25 Prozent ein «verbesserungsbedürftig». Für van der Lubbe ein Unding: «So fördert man nicht die Leistung, sondern den Egoismus – und schwächt damit die Leistungsfähigkeit eines Teams.»
Ist ein transparentes Fixlohnmodell wie beim Staat auch sinnvoll für die Privatwirtschaft? Wirtschafts- und Organisationssoziologin Katja Rost findet «Ja». Es gäbe weniger Neid, die Firmen ersparten sich Bürokratie, Frauen würden gefördert, weil sie bei Lohnverhandlungen oft benachteiligt werden
. «Mit solchen ‹Beamtenlöhnen› würden alle gleich behandelt. Und wenn in einem Team Gleichheit herrscht, funktioniert es am besten und arbeitet am effektivsten.»
«Ein fixes Lohnmodell wie beim Staat heisst nicht, dass auch staatlicher Kündigungsschutz herrschen muss.»
Katja Rost, Universität Zürich
Fixe Lohnerhöhungen wären in der Privatwirtschaft nichts Neues. Bis in die 80er Jahre waren sie in der Schweiz und in Europa der Normalfall. Dann übernahmen immer mehr Firmen US-amerikanische Lohnmodelle, die stärker an Leistung gekoppelt sind. Für Rost keine gute Entwicklung, weder für die Angestellten noch für die Unternehmen: «Boni zum Beispiel führen zu falschen Anreizen und schaden einem Unternehmen langfristig, das hat die Forschung nachgewiesen.» Die Gesamtleistung von Mitarbeitern zu bemessen und daraus eine Lohnerhöhung abzuleiten hält sie ebenfalls für schwierig. Wenn Mitarbeiterin A eine bessere Note und dadurch mehr Lohn bekomme als Mitarbeiter B, demotiviere das in erster Linie B.
Die Professorin der Universität Zürich ist überzeugt: Die allermeisten Menschen machen ihre Arbeit von sich aus gut, für das Selbstwertgefühl und um sich den Kolleginnen und Kollegen zu beweisen. Klar gebe es den Lehrer, der stets den gleichen Unterricht macht. «Dass er wie die guten Kollegen ebenfalls alle paar Jahre mehr Lohn bekommt, nervt». Der Schaden für ein Team sei aber kleiner, als wenn jemand unangemessen mehr verdiene als andere. Im Notfall müsse man sich von schlechten Mitarbeitern trennen. «Ein fixes Lohnmodell wie beim Staat heisst nicht, dass auch staatlicher Kündigungsschutz herrschen muss.»
Trotz aller Vorteile glaubt Rost nicht, dass Lohnmodelle wie von Viisi sich durchsetzen werden. Die Unternehmen müssten bei transparenten «Beamtenlöhnen» zu viel Macht abgeben. Mit dem individuellen, intransparenten Modell seien sie flexibler, wenn sie jemanden unbedingt einstellen wollen. Und oft könnten sie sich Schnäppchen sichern – «Leute, die sich unter Wert verkaufen».
Für Tom van der Lubbe haben solche Praktiken keine Zukunft. Wer sich unterbezahlt fühle, und sei es nur gegenüber den Kolleginnen und Kollegen, wechsle sobald als möglich die Stelle . Eine hohe Fluktuation aber sei der grösste Kostenfaktor für ein Unternehmen. Verlorenes Know-how, neue Leute suchen, neue Leute einarbeiten, das alles koste Geld. «Da ist es doch viel sinnvoller, dieses Geld den Menschen zu geben, die für die Firma eine Leistung erbringen und Gewinn erwirtschaften.»
Die Idee hinter seinem Lohnmodell veranschaulicht er an einem Beispiel: «Ein neuer, unerfahrener Automechaniker kostet wenig, er braucht aber lange, bis er das Problem erkennt und den Schaden beheben kann. Ein erfahrener Automechaniker kostet mehr, dafür kann er in der gleichen Zeit mehrere Schäden reparieren. Für die Reparaturwerkstatt macht es auf den ersten Blick keinen Unterschied, wen sie einstellt – der Kunde aber bevorzugt die Firma, bei der er das Auto am schnellsten wieder zurückbekommt.»
Über den Lohn spricht man nicht gerne. Der Beobachter gibt rechtliche Antworten! Erfahren Sie als Mitglied unter anderem, was man beim Lohngespräch mit dem Chef beachten sollte, ob Sie Anrecht auf Dienstaltersgeschenke oder Boni haben und was Sie tun können, wenn die Arbeitgeberin im Verzug mit der Lohnzahlung ist.