Kuhglocken müssen ab 22 Uhr verstummen
Ein lärmgeplagter Aargauer fordert Nachtruhe auf der Kuhweide neben seinem Haus. Er bekommt im zweiten Anlauf recht: Die Kuhglocken müssen über Nacht weg.
Veröffentlicht am 18. August 2021 - 15:00 Uhr
«Für den Gemeindeammann ist klar: Das Polizeireglement muss angepasst werden. Die Nachtruhe soll für alle Kuhweiden gelten, die sich in der Nähe von Wohngebieten befinden.» (Blick.ch, 23. Juni 2021)
Heuer gibt es kein Sommerloch, dafür einen Stadt-Land-Graben. Es geht um die Unterschiede zwischen «Chreis Cheib» und «Hintertupfingen»: Man wählt anders, impft anders – und regt sich über anderes auf. Jene mit leichtem Schlaf etwa über unterschiedliche Lärmquellen. In der City sind es johlende Heimkehrerinnen aus den Clubs, der kettenrauchende Nachbar mit Dauerhusten oder die Zeitungsverträgerin mit dem frisierten Töffli. Auf dem Land sind es: Kühe.
Ein Aargauer, der in den Ferien regelmässig von daheim habe fliehen müssen, um Ruhe zu finden, hat nun etwas Erstaunliches erreicht: Den Kühen in seinem Wohnort Berikon werden die Glocken abgenommen. Die Beschwerde bei der Gemeinde blieb zunächst erfolglos. Zu gespalten sei das Dorf in dieser Frage. Beim Kanton fand er Gehör: «Die Nachtruhe ab 22 Uhr soll auch für Kuhglocken gelten.»
Lauter Protest
Im Entscheid des Kantons heisst es gemäss SRF: «Aus unserer Sicht liegen keine überwiegenden öffentlichen Interessen vor, und es ist wahrhaftig nicht notwendig, dass die Tiere aus Sicherheitsgründen Glocken tragen müssen (keine Gefahr für Entlaufen der Tiere).»
Die Reaktionen darauf fielen laut aus. In Berikon zogen Trychler durch die Strassen, um sich mit dem Bauern zu solidarisieren. Auf Facebook freute sich die wohl bekannteste Glockengegnerin Nancy Holten über eine gewonnene Schlacht in ihrem Krieg gegen den Lärm und für das Tierwohl. Der betroffene Bauer nahm es gelassen: «Was solls? Dann lasse ich meine Kühe eben Tag und Nacht ohne Glocken draussen grasen.»
Das könnte sich für ihn sogar auszahlen. Glückliche Kühe geben bessere Milch. Vor sieben Jahren hängten Forscherinnen der ETH in einem Feldversuch 100 Kühen drei Tage lang mittelgrosse Glocken um den Hals. Man höre und staune: Die Tiere frassen weniger und ruhten sich seltener aus. Die Leiterin der Studie sagte: «Schuld daran ist auch der Lärmpegel von über 100 Dezibel.»
Ende gut, fast alles gut. Der lärmgeplagte Aargauer muss nicht mehr die Flucht ergreifen, die Trychler können sich wieder dem Coronavirus zuwenden, und der Stadt-Land-Graben ist um eine Schaufel Pragmatismus weniger tief als noch zuvor. Oder um es mit den Worten des Geschäftsführers des Aargauer Bauernverbands zu sagen: «Ich glaube, man darf nicht stur an etwas festhalten.»
Lärm in der Nachbarschaft, verursacht durch Kindergeschrei, feiernde Partygäste oder Baumaschinen, führt häufig zu Konflikten. Erfahren Sie als Mitglied des Beobachters, was ihre Rechte sind und wie sie sich wehren können.
1 Kommentar
Auch ich bin der Meinung, dass nicht gleich die ganze Herde Kuhglocken tragen müssen. Wenn nur eine (natürlich im Wechsel) der Herde eine Glocke trägt, und diese nicht von übertriebener Grösse ist,
wäre das nicht ein gangbarer Kompromis?
Natürlich muss nicht alles, dass seit ewigen Zeiten so gehandhabt wurde und immer noch wird (weil es eben immer schon so war) auch so bleiben.
Aber sind wir mal ehrlich: Jede/r die/der aufs Land zieht, weiss doch schon vorher bzw. muss doch damit rechnen, dass es dort andere Störquellen sprich Lärmquellen gibt, die vor allem weil ungewohnt störend sind. Man kann doch nicht davon ausgehen, dass es auf dem Land primär einfach nur "ruhig" ist. Ausserdem empfinde ich es schon etwas arg anmassend, wenn man meint, sich wie selbstverständlich das Recht herausnehmen zu können, dass das ganze Dorf nun plötzlich nach seiner/ihrer Pfeife zu tanzen hat. Für die, die schon immer auf dem Land wohnten ist es primär schwer vorstellbar, dass das überhaupt als Problem empfunden werden kann - eben weil es schon immer da war.
Ich möchte aber nicht unfair sein, denn; was umgekehrt ein Städter als völlig normal (also ebenfalls kein Problem) empfindet, kann für jemanden, die/der vom Land in die Stadt zieht, enorm störend sein da ebenfalls ungewohnt.
Vielleicht müssen wir einfach lernen (wieder) etwas toleranter gegenüber unseren Mitmenschen zu sein - etwas mehr vom ich wegkommen und für Ungewohntes ein wenig offener sein...