Die Rüebli, die Bruno Wermuth aus dem Holzharass fischt, sind genau so, wie sie sein müssen: knackig und fest. Dabei lagern sie schon seit sechs Monaten ungekühlt auf dem Hof des Biobauern in Vielbringen bei Bern. «Durch den biologischen Anbau bleiben Karotten wie auch Kartoffeln länger lagerfähig und dabei trotzdem frisch», sagt Wermuth. Dafür musste er im letzten Jahr mehrmals jäten, das Unkraut abflammen und dafür jedes Mal eine schützende Vlies-Schicht abdecken und wieder anbringen. Viel Aufwand für ein simples Rüebli, das beim Grossverteiler für 40 Rappen zu haben ist. Es geht auch einfacher. Ein Bauer, der nach konventioneller Methode anbaut, muss ein- bis zweimal ein Herbizid spritzen. Sein Rüebli kostet fünf Rappen weniger.
Wohl auch wegen des relativ geringen Preisunterschieds gehen Biorüebli weg wie warme Weggli, bei Migros sind sie auf Platz drei der Bio-Umsatzliste. Überhaupt lieben Schweizer Bio: Jede und jeder kauft für rund 200 Franken pro Jahr biologisch hergestellte Waren ein, nur die Dänen füllen ihren Bio-Einkaufskorb noch üppiger. Mehr als 1,6 Milliarden Franken setzte die Lebensmittelbranche im letzten Jahr mit Bioprodukten um, sechs Prozent mehr als im Vorjahr, und das bei gesamthaft stagnierendem Markt. Einzig im Biosegment liegt noch Wachstum drin, sagen Fachleute.
Die Kunden lassen sich Bio etwas kosten. Fast zwei Drittel der Konsumenten in der Schweiz sind bereit, für umweltfreundliche Lebensmittel mehr zu zahlen, zeigt eine repräsentative Befragung der Universität St. Gallen, deutlich mehr als in Deutschland (38 Prozent) oder in den USA (20 Prozent). Dafür wollen sie eine Gegenleistung, wie andere Untersuchungen belegen. Vier von fünf Befragten verbinden mit dem Begriff Bio vor allem eins: gesunde Ernährung. Biolebensmittel, so die Erwartung, sind gesünder als solche aus konventionellem Anbau.
Sind sie das tatsächlich? Seit Jahrzehnten versuchen sich Wissenschaftler an Beweisen. Die britische Lebensmittelbehörde Food Standards Agency (FSA) liess sämtliche wissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Thema analysieren, die weltweit zwischen 1958 und 2008 publiziert worden waren. Ernüchterndes Fazit: Zwischen konventionellen und biologischen Lebensmitteln «bestehen keine relevanten Unterschiede in der Nährstoffzusammensetzung». Demzufolge habe auch der Konsum von biologischen Lebensmitteln «keinen Einfluss» auf die Gesundheit des Menschen. «Die wichtigste Botschaft dieser Studie ist nicht, dass die Menschen biologische Lebensmittel meiden sollten», präzisiert FSA-Chef Tim Smith. «Vielmehr sollten sie sich ausgewogen ernähren – ob sie das mit biologisch oder herkömmlich produzierten Lebensmitteln tun, spielt keine Rolle.»
Dennoch kritisiert das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FibL) im aargauischen Frick die FSA-Studie. 20 Untersuchungen, die zu gegenteiligen Schlüssen kamen, seien von den Briten willkürlich ausgeschlossen worden. So etwa Forschungsergebnisse aus der Schweiz, wonach biologische Golden-Delicious-Äpfel mehr Flavonoide enthalten als konventionelle. Flavonoide sollen Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorbeugen.
Ein streng kontrollierter Freilandversuch der Universität Kopenhagen kam zu einem anderen Schluss: Die Forscher pflanzten Zwiebeln, Kartoffeln und Karotten unter identischen Bedingungen, auf der einen Seite mit Pestiziden und Dünger gepäppelt, auf der anderen Seite biologisch. Anders als erwartet wies das Biogemüse keinen höheren Gehalt an Flavonoiden und Phenolsäuren auf. «Wer glaubt, dass ökologisch gewachsenes Gemüse mehr bioaktive Wirkstoffe enthält, bewegt sich auf unsicherem Boden. Wissenschaftlich beweisen lässt sich diese Annahme nicht», bilanziert Studienleiterin Pia Knuthsen.
Selbst FibL-Direktor Urs Niggli räumt ein: «Ein direkter Zusammenhang zwischen biologischer Ernährung und dem Gesundheitszustand konnte bislang wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden.» Ein solcher Nachweis sei schwierig zu erbringen, weil man mehrere tausend Menschen nach ihren Ernährungs- und Lebensgewohnheiten befragen und ihren Gesundheitszustand erfassen müsste – ein Riesenaufwand. Zudem gibt es nur eine geringe Anzahl sich ausschliesslich oder hauptsächlich biologisch ernährender Menschen.
Regina Fuhrer, Biobäuerin und Präsidentin der Vereinigung Bio Suisse, die das bekannteste Biolabel vergibt, die Knospe, ficht der fehlende Beweis nicht an. «Unsere Lebensmittel sind ohne chemische Hilfsstoffe produziert. Das ist ein bedeutender gesundheitlicher Mehrwert», sagt sie. Zudem lege man grössten Wert auf schonende Verarbeitungsmethoden, so dass im Endprodukt mehr sekundäre Pflanzenstoffe enthalten seien. Das ist quasi das pflanzliche Immunsystem, das wahrscheinlich auch dem Menschen hilft.
Laut der deutschen Stiftung Warentest gibt es aber in allen «naturnah hergestellten» Produkten mehr sekundäre Pflanzenstoffe, und zwar egal, ob sie «ökologischer oder konventioneller Herkunft» sind. So hat etwa trüber Apfelsaft mehr davon als klarer. So oder so seien die Mengen an sekundären Pflanzenstoffen viel zu gering, um daraus einen gesundheitlichen Vorteil abzuleiten. FibL-Direktor Niggli dreht den Spiess um: «Es ist eine hohe Kunst, im Biolandbau mit viel weniger Hilfsmitteln eine gleich hohe Qualität der Lebensmittel zu erreichen. Das ist uns gelungen.»
Sicher ist: Bioprodukte enthalten keine Pestizide oder ähnliche Giftstoffe, wie sie bei herkömmlich hergestellten Lebensmitteln vorkommen. In Zeiten von Dioxinskandalen ist das ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Dass Coop im April Biolinsen und Biolinsensuppe aus dem Verkauf zurückziehen musste, weil Herbizidrückstände gefunden wurden, ist die Ausnahme. Selbst die auf solche Analysen spezialisierten Fachleute der deutschen Zeitschrift «Öko-Test» finden praktisch nie Pestizidrückstände – auch nicht bei Biowaren aus Billigläden wie Aldi. «Ob Bioware tatsächlich biologisch erzeugt wurde, kann man im Labor nicht feststellen», schreiben die Experten. «Unsere Schadstofftests ergaben jedoch keinen Hinweis auf Biobetrug.»
Das mag alles sein, aber Bioprodukte schmecken einfach besser, sagen viele. «Bioprodukte haben einen ursprünglichen Geschmack», lässt sich Migros-Bio-Projektleiter Renato Isella in der Migros-eigenen Zeitung zitieren. Coop-Manager Felix Wehrle ortet «klare Geschmacksunterschiede». Auf Nachfrage des Beobachters erklären Coop und Migros jedoch, sie führten gar keine solchen Sensoriktests durch.
Dennoch verweisen die Aargauer Bioforscher gern auf Studien zu diesem Thema, etwa eine aus Kalifornien. Tatsächlich schnitten dabei biologisch angebaute Erdbeeren besser ab: Die Tester stuften sie als geschmackvoller und weniger wässrig ein. Aber das gilt nur bei einer von drei getesteten Erdbeersorten, bei den anderen schmeckten die Tester keinen Unterschied. Der Geschmack von Lebensmitteln, sagt Coop dazu, werde «primär durch die Sorte, den Standort und die Witterung» beeinflusst und nur zum Teil durch die Anbauweise.
Dafür gehts biologisch gehaltenen Tieren besser als Viechern, die in enge Ställe eingepfercht sind. Das jedenfalls ist die Überzeugung vieler Konsumenten; «artgerechte Tierhaltung» ist eines der wichtigsten Motive für den Kauf von Bioprodukten, zeigen alle Umfragen. Was die Konsumenten glauben, stimmt – wenn auch nur teilweise.
Bioschweine behalten ihre Ringelschwänze, Biokühe stehen häufiger auf der Weide, jede Kuh bringt ihr eigenes Kalb zur Welt, das danach Muttermilch trinkt – das sind klare Fortschritte gegenüber der konventionellen Tierhaltung. Antimikrobielle Leistungsförderer sind verboten, der Einsatz von elektrischen Kuhtrainern (die die Kuh mit einem Stromschlag strafen, wenn sie am falschen Ort kotet) ebenfalls.
Auch die Kühe auf Biobauer Bruno Wermuths Hof haben es gut. Kaum löst er die Verriegelung, die die Tiere während des Melkens festhält, trotten sie hinaus auf die weitläufige Weide, wo bereits einige Kälber herumtollen. Ein paar Kühe suchen sich ein Strohbett aus. Der helle, lichte Unterstand ist um Welten besser als der alte, düstere, muffige Stall, in dem Wermuth Kühe hielt, bevor er vor zehn Jahren auf Bio umstellte. Damals waren sie im Winter praktisch den ganzen Tag angebunden, gerade mal einen Meter breit war der Platz pro Tier. «Wenn man im Winter das Fenster öffnete, um die Feuchtigkeit herauszulassen, hatten die Kühe wegen der Zugluft sofort eine Euterentzündung», erinnert sich Wermuth. Heute, im offenen Biostall, zieht es viel mehr, deshalb sind die Tiere widerstandsfähiger.
Die Tierhaltung wird regelmässig überprüft. Bei einer unangemeldeten Kontrolle vor zwei Jahren blieb auch Biobauer Wermuth hängen. Im Zusammenhang mit dem Laktationszyklus hatte er zwei seiner über 20 Kühe während zehn Tagen angebunden – genau da kam der Kontrolleur. Er verlor die Beiträge, die es für besonders tierfreundliche Stallsysteme und regelmässigen Auslauf ins Freie gibt, und zwar für alle Kühe. «Rund 6000 Franken hat mich das gekostet», sagt Wermuth, der die Strafe zwar unverhältnismässig findet, aber dennoch seine Lehren daraus gezogen hat. Biotiere haben es im Schnitt besser. Der Unterschied ist aber in den letzten Jahren kleiner geworden, weil in der Schweiz die Tierschutzvorschriften verschärft wurden.
Ganz natürlich gehts ohnehin nicht zu und her. Während Biobauer Wermuth gerade den neuen Stall zeigt, fährt der Besamer vor. Er wird die Biokühe künstlich befruchten. Bloss der Embryotransfer ist verboten. Was erlaubt ist und was nicht, ist in seitenlangen Vorschriften geregelt – nicht für alle Tiere unterscheiden sie sich aber gleich stark vom gesetzlichen Minimum. Junge Bio-Legehennen haben mehr Auslauf als ihre herkömmlich gehaltenen Leidensgenossinnen, ihr Platz auf der Sitzstange misst aber ebenfalls nur acht Zentimeter. Ältere Biohennen haben 16 Zentimeter, zwei Zentimeter mehr als Nichtbiohennen. Verbesserungen sind also relativ.
Gut, dass Bio mindestens für die Umwelt gut ist, seufzt deshalb manche Konsumentin vor dem Einkaufsregal. Stimmt. Im biologischen Landbau sind Kunstdünger und chemisch-synthetische Spritzmittel untersagt. Angesichts der Tatsache, dass in konventionellem Kraftfutter auch viele zweifelhafte Inhaltsstoffe zugelassen sind (siehe Artikel zum Thema «Tiermast: Ungesundes Tuning für das Vieh»), ist das eine gute Botschaft. Wie viel das der Natur nützt, ist indessen umstritten. In einem 18 Jahre dauernden Versuch verglich die eidgenössische Forschungsanstalt Agroscope jeweils drei nebeneinanderliegende Ackerfelder, die normal, nach IP-Regeln respektive biologisch bewirtschaftet wurden. Doch es zeigten sich weder bei der Menge noch bei der Aktivität der im Boden lebenden Bakterien und Pilze irgendwelche Unterschiede. Auch bei Regenwürmern fanden sich fast keine Unterschiede. In den biologisch bewirtschafteten Parzellen waren zwar Nützlinge wie Laufkäfer und Spinnen etwas aktiver, allerdings hatten auch nach 18 Jahren keine bedrohten Arten oder seltene Unkräuter den Weg auf die Biofelder gefunden.
Der einzige relevante Unterschied war der Ertrag: Auf den Biofeldern lag er 21 Prozent tiefer als auf den konventionellen. Inzwischen hat die konventionelle Landwirtschaft mächtig aufgeholt und das Biokonzept teils kopiert. Bauern, die auf integrierte Produktion (IP) setzen oder für das Migros-Label TerraSuisse liefern, tun heute einiges für die Umwelt. Eine Gründüngung im Winter bietet etwa Nahrung und Deckung für Vögel und Feldhasen, eine Klee-Gras-Mischung als Untersaat ins Getreide öffnet Nistplätze für Bodenbrüter. Auch für Buntbrachen, pfluglosen Anbau oder Hochstammbäume bekommen die Bauern Punkte, die sich letztlich finanziell auszahlen.
Gut für die Umwelt, aber schlecht für die Biolabels, denn dadurch ist der Unterschied zusammengeschmolzen; punkto Biodiversität sind IP/TerraSuisse und Bio-Knospe auf vergleichbarem Niveau. Das ärgert Bio-Suisse-Präsidentin Regina Fuhrer. Vor einer Woche liess sie darum die Delegiertenversammlung neue Richtlinien zur Förderung der Biodiversität beschliessen. Auch die Biobauern müssen jetzt aus einer 30 Massnahmen umfassenden Liste deren sechs umsetzen, etwa das Anlegen von Tümpeln und Nistmöglichkeiten oder den Anbau von seltenen Sorten.
Für die Öko-Gesamtbilanz eine ebenso wichtige Rolle spielen die Transporte. Der Biomarkt wächst und wächst, doch die Anzahl der Biobauern in der Schweiz stagniert seit 2004. Das bedeutet: Immer mehr Bioprodukte kommen aus dem Ausland. 2009 wurden über 130'000 Tonnen allein an Knospe-zertifizierten Waren eingeführt, und zwar längst nicht nur Lebensmittel, die hierzulande aus klimatischen Gründen nicht gedeihen. Die Migros hat Biopflaumen aus Argentinien im Angebot, Coop Biogurken aus Marokko. Fünf verschiedene Varianten Crevetten, alle aus Vietnam und Ecuador, stehen im Tiefkühlregal, beworben mit dem Slogan: «Für Bio ohne Kompromisse».
Zwar kann es je nach Jahreszeit und konkreten Umständen weniger umweltschädlich sein, einen neuseeländischen Apfel per Schiff hierherzuschicken, als einen Thurgauer Apfel mehrere Monate im Kühlhaus zu lagern. Aber wie weit entfernt ist das vom Bio-Grundgedanken? Die deutsche Journalistin Kathrin Hartmann geht diesbezüglich mit den Konsumenten hart ins Gericht. Man könne nicht die ganze Angebotspalette das ganze Jahr über haben, schreibt sie im Buch «Ende der Märchenstunde». Saisonal und regional – das müsse das Motto sein. Wer Biospargeln oder Biotomaten aus einem spanischen Gewächshaus kaufe, betreibe eher modernen Ablasshandel zur Beruhigung des schlechten Gewissens. Ohne Verzicht sei eine wirklich ökologische Ernährung unmöglich.
Im Laden regiert aber die Marktwirtschaft, und der Biomarkt wächst vor allem bei den sogenannten Convenience-Produkten: bereits gewaschene Salate, geraffelte Rüebli, Fertigpizzas. «Bio ganz bequem», wirbt die Migros. Das ist zweifellos praktisch. Aber ökologisch fragwürdig. Mit jedem Verarbeitungsschritt steigt der CO2-Ausstoss exponentiell an. Eine Biokartoffel schlägt im Anbau mit 138 CO2-Äquivalenten zu Buche. Als Trockenpulver für Kartoffelstock sind es schon 3354 Einheiten, errechnete das Öko-Institut Darmstadt, und als tiefgekühlte Pommes frites 5568 Einheiten, 40-mal so viel wie im Rohzustand. Egal, wie gross das Biolabel auf der Verpackung prangt – nachhaltig sind Tiefkühlfritten nie.
Eine ernüchternde Bilanz also. Ist denn Bio mindestens finanziell lohnend für die Bauern? «Ja, für mich geht die Rechnung auf», bilanziert Landwirt Bruno Wermuth. Der Arbeitsaufwand ist zwar beträchtlich höher, doch das wird aufgewogen durch höhere Verkaufspreise und höhere Subventionen des Bundes. Die landwirtschaftliche Forschungsstelle Agroscope hat nachgerechnet: Ein Biobetrieb nimmt jährlich 5300 bis 8800 Franken mehr ein als ein konventioneller. Vergleiche man nur Höfe mit ähnlichen Strukturen, sei der Vorteil noch grösser, sagt das Forschungsinstitut für biologischen Landbau. In Bergregionen steige das Einkommen pro Arbeitskraft um 8000 Franken, im Tal gar um bis zu 15'700 Franken. Das ist doch immerhin etwas.