Ausnahmezustand im Kinderheim
Um Ansteckungen mit dem Coronavirus zu vermeiden, haben die Schweizer Kinderheime das Besuchsrecht stark eingeschränkt.
Veröffentlicht am 26. März 2020 - 17:34 Uhr
Der junge Mann hatte sich auf ein Praktikum beworben. Jetzt befindet er sich in einer dreimonatigen Quarantäne. Freiwillig. Seine Arbeitgeber hatten ihn vor die Wahl gestellt: «Entweder, du lebst die nächste Zeit bei uns – oder wir müssen dir absagen.»
Alles andere hätten Marlene und Paul Bösch nicht verantworten können. Die Ansteckungsgefahr für ihre Schützlinge und für sie selber wäre zu hoch gewesen. Das Ehepaar führt im Aargauer Freiamt einen Bio-Bauernhof mit sieben Plätzen für betreutes Wohnen. Kinder und Jugendliche finden hier ein sicheres, familiäres Umfeld.
Derzeit sind noch zwei Plätze frei. Marlene Bösch kann sich gut vorstellen, dass diese bald belegt sein werden. Die Corona-Krise verschärfe die Situation in ohnehin schon belasteten Familiensystemen. «Wenn Mittagstisch, Hausaufgabenbetreuung und Familienbegleitung ausfallen, führt das zu noch mehr Überforderungssituationen.»
Auf dieses Szenario sind sie vorbereitet. Es gibt viel Platz auf dem Elfenhof. Einen Neuankömmling für zwei Wochen komplett zu isolieren, ginge aber nicht. «Ein Kind in einer Notlage ist enormem Stress ausgesetzt», sagt Marlene Bösch. «Wäre es beim Eintritt noch nicht traumatisiert, wäre dies vermutlich nach der Quarantäne der Fall.»
Der Ausbruch des Covid-19-Virus stellt die Betreiber der Schweizer Kinderheime und anderer Institutionen, die sich um Kinder kümmern, deren familiäre Situation eine Fremdplatzierung notwendig macht, vor grosse Herausforderungen. Am schwierigsten zu meistern ist die Sache mit den Besuchen. Viele Kinder und Jugendliche verbrachten die Wochenenden bis anhin bei ihren Herkunftsfamilien. Andere bekamen regelmässig Besuch der Eltern. Das geht jetzt nur noch in Ausnahmesituationen. Und das belastet.
Heinz Lütolf, Leiter des Zentrums für Sozial- und Heilpädagogik in Köniz und Kehrsatz, blickt in eine ungewisse Zukunft. Derzeit setzten den Kindern die Abschottungsmassnahmen noch nicht so fest zu. Aber was ist in ein paar Wochen? «Die Kinder brauchen in diesen Tagen mehr Zuwendung. Alle sind gefordert.» Falls mehrere Teammitglieder erkranken sollten, würde es gemäss Lütolf eng. Für den Fall, dass es im Heim zu einer Ansteckung kommen sollte, stünden Mitarbeitende bereit, die sich mit den betroffenen Kindern in Quarantäne begeben würden.
Im Kanton Bern wurden im letzten Jahr rund 2'000 Kinder in einer stationären Einrichtung untergebracht. Sven Colijn ist beim kantonalen Jugendamt für die Bewilligung und Aufsicht zuständig. Er sagt: «Zurzeit sind Schliessungen kein Thema.» Wobei sich die Situation in einer Einrichtung schnell ändern könne. Dann müssten rasch spezifische, auf den Einzelfall angepasste Lösungen gefunden werden. Damit Covid-19-bedingte Aufnahmen jederzeit gewährt werden können, hat der Kanton Bern die Platzbeschränkung aufgehoben.
Ein generelles Besuchsverbot herrsche in den Einrichtungen nicht, sagt Colijn. In speziellen Situationen dürften Eltern ihre Kinder besuchen. Besuche in der Herkunftsfamilie seien auf ein Minimum zu reduzieren. Falls in der Herkunftsfamilie Personen lebten, die zur Risikogruppe gehören, sei davon ganz abzusehen.
Michel Seiler geht im Emmental eigene Wege. Er vermittelt als schwierig geltenden Kindern und Jugendlichen Wohnplätze auf Bauernhöfen im In- und Ausland. Die Corona-Krise hat auch Auswirkungen auf den Alltag seiner Klientel. Manche sind zurück bei ihren Familien. Für die Dauer der Krise müssen sie nun dort bleiben. «Ein hin und her gibt es nicht», sagt Seiler. Die meisten Kinder seien aber auf den Höfen geblieben. Dort werde es ihnen auch nicht langweilig. Sie erledigen Ämtli im Haushalt oder helfen draussen beim Holz bündeln. Und natürlich lernen sie auch für die Schule. Das sei schlauer, als zu Hause zu hocken und den ganzen Tag zu gamen. «Am Abend hast du dann zwar Blasen an den Händen, dafür schmerzt der Kopf nicht.»
Im Kanton Zürich bieten 61 bewilligte Kinder- und Jugendheime insgesamt rund 900 Plätze an. Schliessungen seien auch hier kein Thema, heisst es beim Amt für Jugend und Berufsberatung. Insgesamt würden die Kinder die Einschränkungen gut verkraften, sagt eine Sprecherin. «Die Reduzierung der Kontakte mit den Herkunftsfamilien fällt den Kindern und Jugendlichen natürlich schwer, ebenso der eingeschränkte Kontakt zu Gleichaltrigen.»
Auf dem Elfenhof im Aargau sieht man die Coronakrise auch als Chance. «Wir leben hier in einer Blase, in einem kleinen Paradies», sagt Marlene Bösch. Seit Ausbruch der Krise sei es unglaublich ruhig geworden auf dem Gelände. Die Kinder und Jugendlichen hätten nun viel Zeit. Zeit, in der sie Verantwortung übernehmen könnten. Für die vielen Kleintiere auf dem Hof, fürs Gemüsebeet. Vormittags wird auf dem Elfenhof gearbeitet, am Nachmittag finden vier Lektionen Homeschooling statt. Und am Abend schreiben die Kinder und Jugendlichen eine Seite im Tagebuch. «Wir führen jetzt vorübergehend ein Leben als Einsiedler», sagt Marlene Bösch. «Und doch spüre ich ein grosses Miteinander.»
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