Wenn Antibiotika krank machen
Fluorchinolone können Nerven und Sehnen dauerhaft schädigen. Trotzdem werden sie häufig verschrieben. Denn zu viele Ärzte sind schlecht informiert.
Veröffentlicht am 28. Februar 2020 - 13:41 Uhr,
aktualisiert am 21. Oktober 2021 - 08:02 Uhr
Wer kann denn schon ständig vernünftig sein? Also tanzt Marco Karrer mit seiner Freundin. Wenn es sein Zustand zulässt. Nur ein paar Schritte, nur wenige Minuten. Weil die Musik gut ist und er Salsa liebt. In zwei Tagen wird er wieder an Krücken humpeln und kaum stehen und gehen können. Die Schmerzen kriechen bis in die Schultern hoch, in Sehnen und Gelenke.
Marco Karrer ist 27 und leidet seit neun Monaten an den Nebenwirkungen des Antibiotikums
Ciprofloxacin. Vorher lief er manchmal 30'000 Schritte am Tag, machte dreimal die Woche Sport und ging fünfmal Salsa tanzen. Nachher musste er sein Medizinstudium für ein Semester unterbrechen. Über Monate hinweg konnte er keine fünf Minuten stehen und nur wenige hundert Meter gehen.
Fluorchinolone stecken in der Schweiz in jeder elften Antibiotika-Packung, der meistverkaufte dieser Wirkstoffe ist Ciprofloxacin.
«Fluorchinolone wirken sehr zuverlässig, deshalb wurden sie lange Zeit bei vielen Infekten verschrieben», sagt Nicolas Müller, Präsident der Gesellschaft für Infektiologie. Auf dem Markt sind fünf Wirkstoffe, verteilt auf 28 Präparate. Die ersten wurden in den achtziger Jahren zugelassen.
Bald kam es aber zu besorgniserregenden Resistenzen , und Fluorchinolone wurden ab den nuller Jahren weniger eingesetzt. Die Nebenwirkungen spielten damals aber keine grosse Rolle. «Vielleicht hat man zu Beginn unterschätzt, wie häufig sie sind», so Müller. Auch der Umstand, dass sie bleibend sein können, bekam erst in den letzten Jahren die nötige Aufmerksamkeit.
Die US-Arzneimittelbehörde schlug 2008 Alarm. Europa reagierte zunächst zurückhaltend – die Risiken seien bekannt und auf dem Beipackzettel aufgeführt. Erst 2013 verordnete die Aufsichtsbehörde Swissmedic, dass Fluorchinolone bei unerwünschten Wirkungen sofort abgesetzt werden müssen.
2016 wurde der Einsatz stark eingeschränkt. Fluorchinolone sollten nur noch bei einer Penicillinallergie, Resistenzen oder schweren Infekten eingesetzt werden. Etwa bei aggressiven Lungen- oder komplizierten Harnwegsentzündungen, entschied Swissmedic. «Bei einfachen Infekten ist das Risiko der seltenen, aber schweren Nebenwirkungen von Fluorchinolonen zu hoch im Vergleich zum Nutzen», warnt der Apothekerverband Pharmasuisse.
Swissmedic erfasst seit 1991 unerwünschte Wirkungen von Fluorchinolonen. 1700 sind es bisher, 1177 davon schwerwiegend. Die Zahl sagt aber wenig aus – weil Ärzte zwar verpflichtet sind, unerwünschte Nebenwirkungen zu melden, es aber nicht immer tun.
Marco Karrer bekam Ciprofloxacin in den letzten zehn Jahren gleich mehrfach verschrieben. Bei Magen-Darm-Infektionen, einer hartnäckigen Bronchitis, einer Lebensmittelvergiftung, einer Prostataentzündung. «Früher half mir Cipro sehr gut – keine Nebenwirkungen, kein Grummeln im Magen, nichts.»
Bis zum Mai 2019. Kurz vor den Semesterprüfungen musste Karrer erbrechen, hatte Durchfall und hohes Fieber. Weil es ihm am dritten Tag nicht besser ging, erhielt er erneut Ciprofloxacin. «Als ich die Tablette in der Hand hielt, hatte ich zum ersten Mal ein mulmiges Gefühl», erinnert er sich. Doch er schluckte sie. Die ersten Nebenwirkungen kamen rasch. Ein Krampf in der rechten Wade, überall Muskelzuckungen, Schmerzen in den Achillessehnen, Taubheitsgefühle, Kribbeln, Brennen auf der Haut. Es wurde bald schlimmer.
«Ich googelte und las Katastrophenberichte. Ich dachte, dass ich demnächst im Rollstuhl sitze.»
Marco Karrer, 27, leidet seit neun Monaten unter Fluorchinolon-Nebenwirkungen
Nicht alle Patientinnen spüren die Symptome so schnell. Einige leiden erst Wochen später an einer Sehnenentzündung oder Gelenkschmerzen – und können sich nicht erklären, woher die Beschwerden kommen. Auch viele Ärzte sind ratlos – dabei wäre eine schnelle Therapie wichtig. Aber das ist nicht ganz so einfach. Was der einen Person hilft, kann die Beschwerden einer anderen verschlimmern. Betroffene müssen mit viel Geduld herausfinden, was ihre Symptome lindert.
Der Medizinstudent brachte die Schmerzen sofort mit den Fluorchinolonen in Verbindung. «Ich googelte und las Katastrophenberichte. Ich dachte, dass ich demnächst im Rollstuhl sitze. Körperlich ging es mir damals besser als heute, psychisch aber schlechter.» Doch Marco Karrer beruhigte sich. Schrieb seine Prüfungen, informierte sich, klapperte Spezialisten ab. Sie bestätigten seine Diagnose. «Wenn man die zeitlichen Zusammenhänge anschaut, gibt es keinen Zweifel, dass die Beschwerden mit der Einnahme des Antibiotikums zusammenhängen», sagt sein Arzt Michael Wagener.
Eine auf Ganzheitlichkeit spezialisierte Ärztin untersuchte Darm
und Nährstoffwerte. Ein Orthopäde empfahl eine
Physiotherapie und Einlagen. Der Hausarzt setzte auf eine PRP-Therapie, bei der eigenes Blutserum angereichert und in die betroffenen Stellen gespritzt wird. Die Rheumatologin testete eine neuartige Schmerztherapie.
Heute weiss Marco Karrer, was ihm wirklich hilft: hoch dosiertes Magnesium, PRP-Therapie, eine fettreiche und zuckerarme Ernährung, Fasten und Meditieren . Schmerzen hat er trotzdem.
Der Verbrauch von Fluorchinolonen ist stark zurückgegangen. 2010 wurden 386'612 Packungen verkauft, letztes Jahr noch halb so viele. Trotzdem werden die Wirkstoffe hier im Vergleich zu anderen europäischen Ländern noch immer relativ oft verschrieben. Zu oft, kritisieren Betroffenenverbände.
Man habe offen vor den Nebenwirkungen gewarnt, viele Ärzte hätten aber Fluorchinolone wie bis anhin verschrieben, heisst es bei Swissmedic. «Es gehört zur Sorgfaltspflicht, dass Ärzte und Apothekerinnen unsere Warnschreiben lesen und die Empfehlungen umsetzen. Wir wissen aber, dass das nicht immer geschieht. Etablierte Verschreibungsgewohnheiten sind manchmal schwer zu ändern», sagt Sprecher Lukas Jaggi.
Die Verkaufszahlen bestätigen das. Sie gehen zwar seit einem Jahrzehnt zurück, doch nach der Warnung von 2016 gab es keinen Einbruch. Die Arzneimittelbehörde sieht Handlungsbedarf: «Der bisherige Informationsfluss muss hinterfragt und verbessert werden.» Ärztinnen und Ärzte sollen schon im Studium breiter informiert werden. Zudem soll das Meldesystem für Patientinnen vereinfacht werden. Dabei arbeitet die Behörde mit Konsumenten- und Patientenorganisationen zusammen.
Auch Marco Karrer ist am Austausch beteiligt. Er fordert mehr Forschung über die Fluorchinolone, damit möglichst bald eine wirksame Therapie zur Verfügung steht. Zudem sollen die Nebenwirkungen als Krankheitsbilder anerkannt werden, wie es in den USA der Fall ist. Das würde Betroffenen helfen, wenn sie irgendwann eine Invalidenrente beantragen müssen.
Ob es ihm bald besser geht, weiss der Student nicht. Der Krankheitsverlauf ist kaum vorhersehbar. Einige genesen vollständig, anderen geht es erst nach Jahren etwas besser. Wieder bei anderen bleiben die Schäden. Marco Karrer hat sein Studium wieder aufgenommen. Er arbeitet derzeit auf der Radiologie. Auch seine Hobbys lässt er sich nicht nehmen: «Im April reise ich nach Spanien und Ende Jahr vielleicht nach Kolumbien – im schlimmsten Fall halt mit zwei Krücken.»
Tanzen will er wieder, wenn nötig mit einer mechanischen Gehhilfe. Klavier spielen, zehn Minuten, alle zwei Tage – so viel machen die Sehnen mit. «Mein Fokus liegt auf dem, was ich kann. Im Moment ist alles okay. Nicht gut, aber okay. Das muss reichen.»
Wer an Nebenwirkungen durch Fluorchinolon-Antibiotika leidet, kann sich auf www.fqad-beratung.ch beraten lassen. Die Website ist eine direkte Anlaufstelle für Betroffene, die Marco Karrer zusammen mit anderen Experten ins Leben gerufen hat.
3 Kommentare
Es gab im Zusammenhang mit Fluorchinolonen auch Fälle von Reissen der Achillessehne oder der Aorta. Und richtig ist auch, dass die Dunkelziffer von nicht gemeldeten mittelschweren und schweren Nebenwirkungen (NW) hoch ist. Entweder sind die Ärzte diesbezüglich (das Melden von NW) fahrlässig, vermeiden zusätzliche Arbeit oder es bestehen Interessenskonflikte. Weshalb bekam der genannte Student in diesem jungen Alter überhaupt mehrere Magen-Darm-Infektionen, hartnäckige Bronchitis, Lebensmittelvergiftung und Prostataentzündung? Diesbzgl. Symptome lindern und genesen ist das eine, und das andere wäre gewesen: die jeweilige Urache zu eruieren und abzuklären.
Ich bin weder Ärztin noch Studentin, würde aber ein Medikament nicht einnehmen, ohne zuvor den Beipackzettel studiert zu haben. So geschehen im Jahre 2004, als mir die Ärztin gegen Schmerzen sofort das damals relativ neue Medikament Vioxx verordnen wollte, was ich aber nach dem Lesen des Beipackzettels strikte ablehnte. Etwa ein halbes Jahr später wurde Vioxx wegen schweren NW und letalen Herzinfarkten vom Markt zurückgezogen. Es ist entsetzlich und brutal, was gewisse Medikamente anrichten. Dem Studenten wünsche ich gute Besserung.
Insgesamt ein guter Artikel zu einem wichtigen Thema. Schade nur, dass die Ärzteschaft wieder einmal generalisiert als schlecht informiert im Bezug auf Medikamente dargestellt wird. Es gibt einige klare Indikationen für Chinolone (u a. pulmonale und kutane, wie auch komplizierte Harnwegsinfekte). Letztendlich ist wie bei jeder medikamentösen Therapie eine individuelle Abwägung von Risiken/Nutzen entscheidend.
Dieser Artikel ist ein grosses Geschenk. Das Krankheitsbild der Chinolon Schäden muss dringend anerkannt werden. Ich gehöre zu den moderat Betroffenen. Arbeiten kann ich nicht mehr, da physisch für meinen Beruf (Offizin Apothekerin) nicht mehr belastbar. Mein Gutachter der Allg. Inneren Medizin ignorierte meine lange Medikamentenhistory, wie wenn diese Null Einfluss auf meine Gesundheit hätte, obwohl ich selber Dokumentationen zum Thema vorgelegt hatte. Insgesamt hatte ich > 2 Monate Chinolone verschrieben bekommen, zuerst auch empirisch verordnet, später perioperativ bis zu 6 Wochen, damals mit klarer Indikation. Chinolone sind bekannt als Chelatbildner von 2-wertigen Kationen (wie Magnesium), d.h. Magnesiumräuber. Das Magnesiumdepot im Körper wird offensichtlich jedesmal angegriffen. Vitaminexpress (Tipp einer Medizinerin) und private Anbieter bieten top verträgliches (ohne Zusatzstoffe, inkl. Bisglycinat-Verbindungen) bezahlbares Magnesium an. Transdermal hilft evtl. das Tote Meer Salz Bad (Fitness Island Bronschhofen / Reformhaus) oder Mg5 Longoral (kassenpflichtig). Mir wurde die Bakteriophagen Therapie (Eliava Institit Tiflis) nahegelegt.