«Eine sehr ernst zu nehmende Gefahr»
Darf man Antibiotika einfach absetzen? Wie entstehen resistente Keime? Was hat die Fleischproduktion damit zu tun? Das sagt Infektiologe Manuel Battegay dazu.
Veröffentlicht am 29. Dezember 2017 - 16:34 Uhr
Beobachter: Patienten sollen Antibiotika «zu Ende nehmen», heisst es seit Jahrzehnten. Nun sagen Ärzte, man könne mit der Therapie aufhören, wenn man sich besser fühle. Was stimmt nun?
Manuel Battegay: Für viele Krankheiten ist gut definiert, wie lange Antibiotika
einzunehmen sind, ohne dass die Therapie versagt oder dass es zu einem Rückfall kommt. Bei leichteren Infektionen, die ohne Aufenthalt im Spital mit Pillen behandelt werden, kann man die Therapie eventuell frühzeitig beenden – vor allem wenn der Patient ein Antibiotikum nicht gut verträgt oder sich wieder sehr gut fühlt. Dann war das Mittel vermutlich gar nicht nötig. Aber eigenmächtig sollte man das Antibiotikum nicht absetzen, sondern nur in Absprache mit dem Arzt.
Bei welchen Infektionen darf man den Zyklus nie frühzeitig abbrechen
?
Bei allen intravenösen Antibiotikatherapien, das heisst bei schweren Infektionen wie der Entzündung von Herzklappe oder Hirnhaut oder im Zusammenhang mit Fremdkörpern wie einer Hüftprothese. Studien bei Tuberkulose etwa zeigten, dass die Therapie sehr oft versagt, wenn man sie von sechs auf vier Monate kürzt.
Führt ein frühzeitiger Abbruch dazu, dass mehr Keime resistent werden?
Eine Therapie, die versagt, muss man wiederholen. Das führt mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu, dass mehr Bakterien resistent werden. In erster Linie ist aber der insgesamt gestiegene Konsum von Antibiotika die Ursache der höheren Resistenzrate. Und dass sie unsachgemäss eingenommen werden, also in zu tiefer Dosierung.
«Im internationalen Vergleich werden in der Schweiz weniger Antibiotika verabreicht, aber zuweilen immer noch zu viele.»
Manuel Battegay, Chefarzt Infektiologie und Spitalhygiene am Universitätsspital Basel
Liegt der hohe Antibiotikakonsum an den Ärzten oder an den Patienten?
Der Druck von Patienten ist sehr gross, Antibiotika einzusetzen, vor allem von Eltern, wenn es um ihre Kinder geht. Es ist nicht immer einfach, klinisch zu entscheiden, ob eine Infektion durch Bakterien verursacht wurde oder durch Viren – gegen Letztere sind Antibiotika wirkungslos. Im internationalen Vergleich werden in der Schweiz weniger Antibiotika verabreicht, aber zuweilen immer noch zu viele.
Was haben Reisen und Migration mit dem Auftreten von Resistenzen zu tun?
Sehr viel. Bis zu 70 Prozent der Reisenden sind nach einem Aufenthalt in Südostasien Träger resistenter Keime. Allerdings verlieren die meisten diese Bakterien wieder – wobei nicht sicher ist, ob wenige Keime im Darm überleben und später Probleme verursachen.
Wie hoch ist das Risiko, sich im Spital mit resistenten Keimen zu infizieren?
Das kommt sehr auf das Spital an. Generell kann man sagen, dass einige Länder hohe Raten von Antibiotikaresistenzen haben, gerade im Mittelmeerraum. Wir betreuen Patienten, die nur wenige Tage in einem solchen Spital verbracht haben und mit resistenten Keimen zurückkehren. In einem Schweizer Spital ist das Risiko dank der Arbeit der Spitalhygiene deutlich geringer.
«Antibiotika sollten nur von Ärzten verabreicht werden.»
Manuel Battegay, Infektiologe
Dennoch hört man öfter von Patienten, die «Spitalkeime» nicht überlebten.
Wir müssen vom Konzept «Spitalkeime»
wegkommen. Ein grosser Teil resistenter Bakterien wird ins Spital hineingebracht, das zeigen genetische Untersuche. Bei ungenügender Sorgfalt können die Keime auch im Spital übertragen werden. Das Problem ist, dass unsachgemässe Antibiotikaabgaben resistente Bakterien begünstigen und Menschen vermehrt Träger sind – wo auch immer, nicht nur im Spital.
Gibt es im Mittelmeerraum vermehrt resistente Bakterien, weil man in Italien, Griechenland, Spanien oder Zypern Antibiotika ohne Rezept kaufen kann?
Das ist sicher so. Die Abgabe gehört in ärztliche Hände
.
Würden Sie eine Blasenentzündung mit Antibiotika therapieren?
Das illustriert das Problem sehr gut. Zuerst muss man eine Blaseninfektion
diagnostizieren – und nicht «einfach» Bakterien im Urin. Bei einer Infektion und wenn die Patientin über Schmerzen klagt, würde ich Antibiotika verabreichen. Es ist wichtig, zu fragen, ob es Risikofaktoren für die Blaseninfektion gibt und ob man einer weiteren Infektion vorbeugen kann, etwa durch genügend Flüssigkeitsaufnahme.
«In manchen Ländern rund ums Mittelmeer sind die Resistenzen so hoch, dass Breitband-Antibiotika nicht mehr wirken.»
Manuel Battegay, Infektiologe
Wogegen werden Antibiotika falsch verschrieben oder eingenommen?
Am häufigsten gegen virale Infektionen, vor allem der oberen Luftwege, da fälschlicherweise angenommen wird, die meisten seien durch Bakterien verursacht. Aber: Bei lebensgefährlichen Situationen müssen wir Antibiotika geben, auch wenn wir eine Infektion nur vermuten. Wir dürfen nicht in Kauf nehmen, dass ein Patient stirbt, weil wir darauf verzichtet haben. Wir müssen also einigen Patienten Antibiotika geben, auch wenn sich später herausstellt, dass es nicht nötig war. Wichtig ist aber, den Verlauf der Therapie im Auge zu behalten und sie zu stoppen, wenn man weiss, dass das Antibiotikum nicht nötig war.
Gibt es ein Super-Antibiotikum gegen multiresistente Keime?
Nein. Es gibt Breitband-Antibiotika, die ein sehr breites Spektrum haben und mitunter auch resistente Bakterien eliminieren können. In manchen Ländern rund ums Mittelmeer sowie von Indien bis China sind die Resistenzen aber so hoch, dass auch diese Antibiotika nicht mehr wirken.
Fürchten Sie einen unbesiegbaren Keim?
Ich halte die allerschlimmsten Befürchtungen, wie sie von Ökonomen aus England geäussert wurden, für übertrieben. Doch es ist eine sehr ernst zu nehmende Gefahr. Nicht wegen eines einzelnen Superkeims, sondern weil viele bisher gut behandelbare Keime resistenter werden und zu mehr Komplikationen führen, mit ernsthafteren und auch tödlichen Verläufen. Das sehen wir zunehmend.
Woran sterben Leute, wenn ein Antibiotikum nicht mehr wirkt?
Schwere Infektionen können den Kreislauf kollabieren lassen. Das führt zu einer Blutvergiftung, die tödlich sein kann. Je nach Bakterium sterben 10 bis 30 Prozent dieser Sepsis-Patienten, auch junge.
«Ein Bakterium kann sich so verändern, dass Antibiotika nicht mehr andocken oder eindringen kann.»
Manuel Battegay
Neue Antibiotika sind oft extrem teuer. Sind sie wirksamer als die bewährten?
Das Hauptproblem ist, dass neue Antibiotika oft für einen sehr fokussierten Bereich hergestellt werden müssen, also für ein bestimmtes Bakterium, das eine bestimmte Resistenz aufweist. Folglich ist auch das Anwendungsgebiet recht eng. Dafür sind sie in einzelnen Situationen wirksamer als die bewährten. Aber weil das Anwendungsgebiet deutlich kleiner ist, sind sie auch teurer. Leider erscheint es für die Pharma so, dass sich die Antibiotikaproduktion vielfach nicht lohnt. Aber es sind nun mehrere Firmen daran, neue Antibiotika zu erforschen und zu analysieren, auch hier in Basel.
Wie bildet ein Bakterium Resistenzen?
Meist genetisch. Das hat etwa Auswirkungen auf die Zellwand oder auf die «Kopiermaschinen» des Bakteriums. Ein Bakterium kann sich so verändern, dass Antibiotika nicht mehr andocken oder eindringen können.
Wie werden die Keime übertragen?
In und auf jedem Menschen leben hundertmal mehr Bakterien, als er Zellen hat. Auch resistente. Übertragen werden sie durch direkten Kontakt wie beim Händedruck, bei einem Kuss, beim Berühren kontaminierter Oberflächen. Und beim Essen, da auch Tiere Antibiotika erhalten.
Fördert also die Fisch- und Fleischproduktion Antibiotikaresistenzen?
In grossen Farmen werden resistente Keime leichter übertragen
, weil auch bei Tieren der direkte Kontakt und die Nahrung eine Rolle spielen. Das Wichtigste aber ist: Die Tiere erhalten nach wie vor zu viele Antibiotika und produzieren so resistente Bakterien.
Müssten wir also unser Essen umstellen?
Sagen wir so: Wir müssen den Einsatz von Antibiotika reduzieren, insbesondere in der Fleischproduktion.
Manuel Battegay (59) ist Chefarzt der Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Unispital Basel. Er leitet die EACS, eine Organisation, die HIV-Richtlinien für 55 Länder festlegt.
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