Bis zu zwei Kilo. So viel würden unsere Darmbakterien wiegen, wenn sie sich alle auf einer Waage drängten. Mehr als das Herz, mehr als das Gehirn. Platz auf der Waage fänden sie aber kaum, denn selbst im Darm ist der Wohnraum eng – obwohl er insgesamt bis zu neun Meter misst!

Schon auf einem einzigen Quadratzentimeter leben mehr Bakterien, Viren und Pilze als Menschen auf der Erde. Ihre Zusammensetzung ist sehr heterogen: Im Durchschnitt lassen sich im menschlichen Darm mindestens 160 verschiedene Arten finden. Einige von ihnen sind Störenfriede, die giftige Substanzen produzieren, Durchfall und Magenbeschwerden auslösen. Meist sind sie aber von einer Armee aus «guten» Bakterien umzingelt, die Nahrung verarbeiten, eine gesunde Verdauung fördern und das Immunsystem Abwehrkräfte Was stärkt unser Immunsystem? unterstützen. Solange sich produktive und aufmüpfige Bewohner im Gleichgewicht befinden, fühlt sich unser Darm wohl.

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Eine gestörte Darmflora beeinflusst die Psyche

Kompliziert wird es, wenn Störenfriede das Kommando übernehmen. Oder wenn gute Bakterien ihre Arbeit niederlegen. Die Auswirkungen sind im ganzen Körper spürbar. So sorgen Darmbakterien manchmal dafür, dass wir müde und unkonzentriert sind. Aber auch Erkrankungen wie Multiple Sklerose sowie Autismus, Depressionen oder Übergewicht konnten mit einer gestörten Darmflora in Verbindung gebracht werden. Ermöglicht wird ein solcher Einfluss durch die sogenannte Darm-Hirn-Achse. Seit einiger Zeit ist bekannt, dass Darm und Hirn über Nerven, Hormone, weisse Blutzellen und Immunsubstanzen miteinander kommunizieren.

Diese wechselseitige Kommunikation bekommen wir täglich zu spüren. Zum Beispiel bei Stress Stress und Körpersymptome Körper im Alarmzustand , wenn der Körper besonders viel Adrenalin und Cortisol ausschüttet. Dann versetzen uns Hormone in Alarmbereitschaft und sorgen für eine erhöhte Atem- und Herzfrequenz. Da solche Prozesse viel Energie brauchen, muss diese an anderer Stelle – etwa im Darm – eingespart werden. Auf die reduzierte Tätigkeit reagieren einige Menschen mit Heisshungerattacken, andere verlieren den Appetit oder haben Verstopfung. Signale werden aber nicht nur vom Hirn zum Darm geschickt, sondern verkehren auch auf der Gegenfahrbahn: Wenn der Darm nach Nahrung verlangt oder er an einer Entzündung leidet, weiss das Hirn sofort Bescheid.
 

«Eine Störung der Darmflora kann schwerwiegende Auswirkungen auf die Psyche haben.»

Gregor Hasler, Psychiater und Psychotherapeut


Beim Transport der Signale hat das Nervensystem eine Schlüsselrolle inne, denn seine Verbindungen zum Darm sind besonders dicht. Doch auch Hormone sorgen für regen Austausch auf der Darm-Hirn-Achse: Im Darm werden 30 Botenstoffe hergestellt, darunter Dopamin und 95 Prozent des Botenstoffs Serotonin. Wenn die Produktion gestört ist, kann es zu Schlafproblemen, Ängsten und depressiven Verstimmungen kommen. «Fast alle Antidepressiva erhöhen deshalb die Ausschüttung von Serotonin – nicht nur im Hirn, sondern auch im Darm», erklärt der Psychiater und Psychotherapeut Gregor Hasler. «Eine Störung der Darmflora kann schwerwiegende Auswirkungen auf die Psyche haben.» Zudem sitzen 70 Prozent der Immunzellen im Darm – bei Problemen können sie nicht angemessen reagieren.

Weshalb die Erforschung der Darm-Hirn-Achse kompliziert ist

Obwohl die Forschung in den letzten Jahrzehnten grosse Schritte gemacht hat, weiss man über die genauen Mechanismen des Austauschs zwischen Darm und Hirn noch wenig. «Wir fangen erst an, zu begreifen, welch grossen Einfluss Darmbakterien auf den ganzen Körper haben», so Hasler, dessen Buch «Die Darm-Hirn-Connection» im Juni veröffentlicht wurde. «Die Forschung in diesem Bereich ist sehr aktiv. Man kann sich kaum vorstellen, wie viele neue Erkenntnisse wir in ein paar Jahren haben.» Der Darm beschäftigt inzwischen längst nicht nur die innere Medizin, sondern viele weitere Fachbereiche wie Neurologie, Gynäkologie, Immunologie, Psychiatrie.

Die Methoden und Techniken zur Untersuchung des Darms haben sich in den letzten Jahren stark verbessert. Trotzdem ist die Erforschung der Darm-Hirn-Achse noch immer kompliziert. Zum einen kann die Kausalität meist nicht geklärt werden, wenn an einer Erkrankung sowohl Darm als auch Hirn beteiligt sind. War eine gestörte Darmflora Auslöser der Depression, oder hat sich diese negativ auf den Darm ausgewirkt? Zum anderen gibt es eine Vielzahl von Einflussfaktoren und Wechselwirkungen, die in Experimenten am Menschen nur schlecht eliminiert werden können.

Mutprobe für Mäuse

Deshalb stammt der Grossteil der bisherigen Erkenntnisse aus Experimenten mit Mäusen . Diese werden mittels Kaiserschnitt zur Welt gebracht, damit sie bei der Geburt möglichst wenigen Bakterien ausgesetzt sind. Sie wachsen in keimfreien Räumen auf und fressen sterile Nahrung.

Mit Hilfe der Tiere konnten kanadische Forscher beweisen, dass Darmbakterien die Persönlichkeit beeinflussen können: Von zwei verschiedenen Arten wurden Mäuse mit keimfreiem Darm herangezogen. Die eine Art war extrovertiert und draufgängerisch, die andere scheu und nervös. Den jungen Mäusen transplantierten die Forscher Darmbakterien der jeweils anderen Art. Anschliessend mussten sie als Mutprobe auf eine erhöhte Plattform. Siehe da: Plötzlich sprangen die scheuen Mäuse von der Plattform, ohne zu zögern, die draufgängerischen brauchten dreimal so lange wie zuvor. In einer anderen Studie wurden Mäusen Darmbakterien depressiver Menschen in den Darm eingepflanzt – schnell zeigten auch die Tiere Symptome.

Solche Effekte treten nicht nur im Tierreich auf, wie eine Studie in acht niederländischen Gefängnissen zeigt: Da eine verringerte Bakterienvielfalt im Darm zu aggressivem Verhalten führen kann, wurde das Essen von über 200 Häftlingen mit Vitaminen , Mineralstoffen und Fettsäuren angereichert. Zwischenfälle, die zu einem Eintrag im Strafregister führten, gingen in der Folge um einen Drittel zurück. In britischen und australischen Gefängnissen kam man zu ähnlichen Ergebnissen.

«Unsere Ernährung hängt eng mit der Darmgesundheit zusammen», erklärt Bettina Wölnerhanssen, Leiterin Forschung des Basler St. Claraspitals. «Wer sich ungesund und unausgewogen ernährt, reduziert die Vielfalt seiner Darmbakterien. Dies kann wiederum einen starken Einfluss auf Psyche und Verhalten, aber auch auf den Stoffwechsel haben.»

Bei Übergewichtigen etwa ist die Bakterienvielfalt verringert. So kommt es zu einer Störung der Rezeptoren im Dünndarm, die eigentlich Sättigungshormone ausschütten müssten. Gleichzeitig hat das Hirn Probleme, Signale vom Darm zu deuten. In solchen Fällen reicht es oft nicht aus, auf eine ausgewogene Ernährung umzusteigen.
 

«Über eine kleine Portion gemischtes Gemüse freut sich unser Darm mehr als über einen grossen Brokkoli»

Bettina Wölnerhanssen, Leiterin Forschung des Basler St. Claraspitals


«Unser Einfluss auf die Darmgesundheit ist begrenzt», erklärt Wölnerhanssen. «Gute Ernährung und wenig Stress kommen dem Darm zwar zugute, der Grundstein für das Mikrobiom wird aber schon in den ersten vier Lebensjahren gelegt.» Mit dem Mikrobiom Ursachenforschung Dem Rätsel der Allergien auf der Spur ist die Gesamtheit aller Mikroorganismen gemeint, die den Menschen besiedeln. Nebst dem Stillen ist es wichtig, dass kleinen Kindern deshalb eine möglichst grosse Auswahl verschiedener, möglichst unverarbeiteter Lebensmittel angeboten wird. Je farbiger und vielseitiger, desto besser: «Über eine kleine Portion gemischtes Gemüse freut sich unser Darm mehr als über einen grossen Brokkoli», so Wölnerhanssen.

Der Hype um probiotische Lebensmittel hat sich hingegen als nicht gerechtfertigt herausgestellt. Solche Produkte – etwa Joghurts – enthalten gute Bakterien, die positive Effekte auf die Darmflora und das Immunsystem haben sollen. «Studien zeigen inzwischen, dass diese Mikroorganismen gar nicht im Darm ankommen», sagt Gregor Hasler. «Wer haufenweise Joghurt isst, tut sich also nicht unbedingt etwas Gutes, zumal diese ja oft voller Zucker sind.»

Im Verlauf des Lebens passt sich das Mikrobiom zwar immer wieder an, zu grundlegenden Veränderungen kommt es aber selten. Hasler vergleicht die Darmflora mit einem Regenwald: «Nur wenn grössere Flächen komplett gerodet werden, wächst der Wald nicht mehr nach. Im Normalfall sind kahle Stellen nach einem Brand schnell wieder grün.» Genauso beim Darm: Selbst nach einer längeren Krankheit dauert es nur ein paar Wochen, bis das Mikrobiom zu seinem ursprünglichen Zustand zurückkehrt. Bei Antibiotika Bakterien Wenn Antibiotika nicht mehr wirken sind es meist ein paar Monate, da sie auch gute Bakterien abtöten und damit einen grösseren Schaden anrichten. Auf den Darm ist dennoch Verlass.

Gesund dank Kot?

Die schnelle Regeneration hat aber nicht nur Vorteile, denn so scheitern auch viele Versuche einer positiven Beeinflussung. Das macht die Behandlung von Darmerkrankungen kompliziert. Wissenschaftler experimentieren momentan mit Stuhltransplantationen. Dabei wird Kot eines Spenders durch Endoskopie oder mit Kapseln in den Darm des Kranken übertragen. Die Bakterien der gesunden Person sollen helfen, den kranken Darm «aufzuräumen». Zwar wirken die Behandlungen oft überraschend gut, leider aber nur für ein paar Wochen.

Einzig beim aggressiven Bakterieninfekt Clostridium difficile, der starken Durchfall und Bauchschmerzen auslöst, zeigt die Stuhltransplantation bisher anhaltende Wirkung.

Dass man damit dennoch vorsichtig umgehen sollte, belegt der Fall einer 32-jährigen Amerikanerin. Schon kurz nach der Behandlung verschwand der Infekt, zu Nebenwirkungen kam es aber trotzdem. 36 Monate nach der Transplantation hatte die Frau 18 Kilo zugenommen. Mit einem Body-Mass-Index von 34,5 war sie nun adipös BMI Bin ich übergewichtig? . Selbst die medizinisch überwachte Diät und sportliche Betätigung halfen nicht. Der Grund für die plötzliche Zunahme überraschte sogar die Ärzte: Die neuen Darmbakterien waren schuld. Denn die Tochter der Frau, die als Spenderin eingesetzt worden war, war ebenfalls übergewichtig.

Wissen, was dem Körper guttut.
«Wissen, was dem Körper guttut.»
Jasmine Helbling, Redaktorin
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