Die «Röhre» ist nicht harmlos
Ein MRI wird schnell verordnet. Doch die verwendeten Kontrastmittel können auf Jahre hinaus im Körper bleiben und krank machen.
Veröffentlicht am 16. März 2020 - 15:07 Uhr
Am Morgen des 18. Juni 2018 geht Anita Müller* im Berner Inselspital durch die Hölle. Später wird ihr Hausarzt sagen: «Sie wäre fast gestorben.» An diesem Montag liegt die 54-Jährige in der Röhre – für eine Magnetresonanztomografie (MRI). Nach der Injektion des Kontrastmittels reagiert sie mit einem anaphylaktischen Schock, einer lebensbedrohlichen Form einer allergischen Reaktion.
Das Kontrastmittel Dotarem enthält das Schwermetall Gadolinium. Es wird in der Schweiz am häufigsten verwendet. Anita Müller hatte bis dahin zwei Dutzend MRIs mit gadoliniumhaltigen Kontrastmitteln hinter sich. Erstmals in die Röhre kam sie 2003 mit einem Hirntumorverdacht. Später macht ihr ein Tumor im Knie zu schaffen, der sie erneut in den Tomografen zwingt.
Heute, nach vielen weiteren MRIs, leidet sie an den Nebenwirkungen der Gadolinium-Kontrastmittel. Das Schwermetall lässt sich in ihrem Körper noch immer nachweisen. Ihr Arzt spricht von der Gadoliniumablagerungskrankheit. Sie sagt von sich: «Ich bin ein Wrack.»
Für möglichst scharfe, detailreiche Bilder wird vor einem MRI häufig ein Kontrastmittel verabreicht, das Gadolinium enthält; ein Schwermetall, das zu den seltenen Erden gehört. In die Blutbahn gespritzt, verteilt es sich im ganzen Körper.
Freies Gadolinium ist giftig. Es darf deshalb nicht in reiner Form verabreicht werden; man muss es chemisch verpacken. Je nach Verpackungsart wird unterschieden zwischen einfachen, linearen und makrozyklischen Kontrastmitteln.
Seit 2017 ruhen in ganz Europa die Zulassungen einiger linearer Gadolinium-Kontrastmittel, nachdem man auch bei Patienten mit gesunden Nieren Ablagerungen im Gehirn gefunden hat.
Anita Müller ist nicht die Einzige. Allein die Facebook-Selbsthilfegruppe «Gadoliniumvergiftung» hat 1500 Mitglieder. Trotz unzähligen ähnlichen Fällen bestreiten Radiologen und Hersteller dauerhafte Gesundheitsschäden. Es gebe keine wissenschaftlichen Beweise für einen direkten Zusammenhang von Kontrastmittel und Erkrankung. Der Hersteller Guerbet schreibt auf dem Beipackzettel von Dotarem, das Anita Müller fast das Leben gekostet hätte: Das Mittel werde «rasch und in unveränderter Form mit dem Urin ausgeschieden».
Das stimmt nicht ganz, sagt Thomas Carmine. Der Arzt behandelt in seiner Praxis in Pfäffikon SZ schwermetallgeschädigte Patienten. Carmine verweist auf die 2018 veröffentlichte Pilotstudie einer amerikanischen Selbsthilfegruppe, die den Urin von 135 Gadoliniumpatienten analysierte. Sie wies nach, dass selbst die als harmloser geltenden makrozyklischen Kontrastmittel (siehe Infobox) über Monate hinweg erhöhte Werte im Urin erzeugen. Gadolinium könne noch sehr viel länger im Körper bleiben, sagt Thomas Carmine. «Bei einem der Patienten konnte ich das Gadolinium sogar noch 15 Jahre nach einem MRI nachweisen. Das 140-Fache dessen, was von jemandem zu erwarten ist, der nie Gadolinium gespritzt bekam.»
Bei Dialysepatienten mit Nierenschäden wurde erstmals 1997, neun Jahre nach der Markteinführung der gadoliniumhaltigen Kontrastmittel, eine langwierige, oft tödlich verlaufende Autoimmunerkrankung beschrieben, die nephrogene systemische Fibrose. Es dauerte weitere neun Jahre, bis der österreichische Nierenspezialist Thomas Grobner in der Haut dieser Patienten Ablagerungen von Gadolinium nachwies. Folgestudien bestätigten seine Beobachtungen. Darauf schrieb die Europäische Arzneimittel-Agentur 2007 für alle MRI-Patienten vor, dass vor der Verabreichung von Gadolinium geprüft werden müsse, ob die Nieren funktionstüchtig sind. Für Nierenkranke schränkte sie die Verwendung von sogenannten linearen gadoliniumhaltigen Kontrastmitteln stark ein.
Auf dem Fragebogen, den Patienten vor der MRI-Untersuchung unterschreiben müssen, wird nicht über Nebenwirkungen von Kontrastmitteln aufgeklärt. Auch mündlich geschieht das oft nicht. Anita Müller, die in Lebensgefahr geriet, sagt: «Ich wurde nie über Nebenwirkungen aufgeklärt.»
Dasselbe berichtet die durch Gadolinium geschädigte Sonja Werder, 50. «Über Nebenwirkungen wurde mir nie etwas gesagt.» Dabei ist das medizinische Personal gesetzlich zur Aufklärung verpflichtet. Als Anita Müller bei der Ombudsstelle des Inselspitals nachfragte, wieso sie nie über Gadolinium-Nebenwirkungen aufgeklärt worden sei, habe man gesagt, das sei Sache ihres Hausarztes, der sie zum MRI geschickt habe.
Die Patientenstelle Zürich rät, vor einem MRI diese Fragen zu stellen und die Antworten medizinisch begründen zu lassen:
- Ist das Kontrastmittel unbedingt notwendig?
- Gibt es eine weniger invasive Alternative?
- Ist der Zeitabstand zwischen den MRI-Untersuchungen angepasst?
- Kann der Radiologe die Untersuchung so durchführen, dass die Qualität sowie die Sicherheit der Untersuchten gewährleistet sind?
- Welche Konsequenzen könnten sich für mich ergeben? Insbesondere: Welche Nebenwirkungen könnte das Kontrastmittel haben?
Stephan Kinzl, Berner Anwalt für Patientenrechte, sieht das anders: «Über Risiken und Nebenwirkungen informieren muss derjenige Facharzt, der die diagnostische oder therapeutische Massnahme trifft, hier also der Radiologe. Sicher nicht der Hausarzt.» Auch die Schweizer Zulassungsbehörde Swissmedic nimmt die rund 1000 in der Schweiz tätigen Radiologen und Radiologinnen in die Pflicht – aber zuweisende Mediziner ebenfalls: «Jeder behandelnde Arzt muss Patienten über mögliche Auswirkungen seiner Behandlung informieren.»
Dabei wären in vielen Fällen Kontrastmittel gar nicht nötig. Das sagt der deutsche Medizinkritiker Gerd Reuther, der 30 Jahre lang als Radiologe tätig war. Deshalb müsse man sich stets vergewissern, ob für eine sichere Diagnose tatsächlich ein Gadolinium-Kontrastmittel erforderlich ist.
Die Patientin Sonja Werder hat genau das getan. Als sie vom Unispital Zürich das Aufgebot für ein weiteres MRI erhielt, lehnte sie das Gadolinium-Kontrastmittel ab. Die Arztsekretärin entgegnete ihr, dass die Untersuchung dann sinnlos sei, da auf den Bildern nichts zu sehen wäre. Werder sagte das MRI ab. Am nächsten Tag mailte ihr der zuständige Oberarzt: «Selbstverständlich kann eine MRI-Untersuchung auch ohne Gabe von Kontrastmitteln erfolgen.»
Sonja Werder sagt heute: «Ich war total perplex und dachte: Warum jagt man mir Gift in die Blutbahn, wenn es gar nicht nötig ist – im Wissen darum, was es anrichten kann? Das geht für mich in Richtung vorsätzlicher Körperverletzung.»
Das sieht die Regensburger Patientenanwältin Alexandra Glufke-Böhm genauso. Sie vertritt in ihrer Kanzlei 50 Gadoliniumgeschädigte. Für sie ist nicht hinnehmbar, dass mögliche Nebenwirkungen verschwiegen werden und die Verabreichung von gadoliniumhaltigen Kontrastmitteln oft gar nicht nötig wäre. «Da wird das Selbstbestimmungsrecht verletzt. Und vor allem ist es eine Körperverletzung.» Zudem werde gespritzt, ohne über die möglichen Folgen zu informieren, sagt Glufke-Böhm. «Keiner meiner Klienten wurde aufgeklärt.» Ähnliches berichten Patientinnen und Patienten in der Schweiz.
Nach geltendem deutschem und schweizerischem Recht sind es die Patienten, die einen Schaden durch Medikamente beweisen müssen. Darum haben Geschädigte in aller Regel kaum Chancen.
Ermutigt durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2017, fordert die Regensburger Anwältin jetzt in einem Präzedenzfall, dass die Beweislast umgekehrt wird. Nicht der Patient soll beweisen müssen, dass ihn Gadolinium krank gemacht hat – sondern die Hersteller, dass es nicht das Mittel war. Der Gerichtshof entschied sinngemäss: Wenn viele Betroffene an gleichartigen Krankheiten leiden, ist kein wissenschaftlicher Beweis mehr nötig, um einen direkten Zusammenhang zu belegen. Die Indizien genügen.
«In der Schweiz ist die Sichtweise des Europäischen Gerichtshofs umstritten», sagt Patientenanwalt Stephan Kinzl. Er glaubt nicht, dass man damit durchkomme. Da würde vermutlich die «Fremde-Richter-Keule» zuschlagen. «Die Indizienkette muss relativ stark sein, damit Sie in der Schweiz einen Richter vom Kausalitätsnachweis überzeugen können.» Die Basler Rechtsprofessorin Corinne Widmer hofft trotzdem, dass der europäische Entscheid auch in der Schweiz betroffenen Patienten die Beweisführung erleichtern wird. «Ohne guten Grund sollte die hier angestrebte Harmonisierung nicht vereitelt werden.»
Bringt das digitale Zeitalter die Rettung? Alexander Radbruch von der Universität Essen, ein international bekannter Radiologieforscher, arbeitet mit seinem Team an virtuellen Kontrasten. Vereinfacht gesagt, setzt dabei der Computer aus Millionen vorhandener Schichtaufnahmen und Diagnosen das richtige Bild zusammen. Radbruch hofft, «dass wir mit künstlicher Intelligenz in fünf Jahren den Einsatz von Gadolinium um bis zu 90 Prozent reduzieren können».
Es sei allerdings auch eine ethische Verpflichtung, bisher aufgetretene Beschwerden wissenschaftlich fundiert zu untersuchen. «Man muss erforschen, was da los ist. Wir dürfen diese Patienten nicht alleinlassen», so Radbruch.
*Name geändert
Weigert sich die Krankenkasse, eine Kostengutsprache zu erteilen? Welche Zusatzversicherungen gibt es überhaupt? Beobachter-Mitglieder erfahren, welche Kosten die Krankenversicherung übernimmt und wo sich eine Zusatzversicherung lohnt. Eine weitere nützliche Hilfestellung: ein Kündigungsschreiben als Mustervorlage.
1 Kommentar
Noch schlimmer sind die "Tattoo" Farbstoffe, die sogar vorsätzlich und nutzlos angewendet von der Haut ins Lymphsystem wandern und verbleiben.